„Ich verstehe, dass das psychischen Druck erzeugen soll“

In Odesa ist Mitternacht. Ich sehe Romans Gesicht neben meinem auf dem Bildschirm meines Laptops. Wir haben uns zum Zoom-Gespräch verabredet. Er lächelt, wirkt fast so entspannt und gut gelaunt wie ich ihn kenne. Seine Stimme jedoch klingt viel weniger hell als sonst. Im Sommer waren wir gemeinsam unterwegs in der Südukraine, um ehemalige deutsche Kolonien zu finden. Roman ist Dozent für Tourismus an einer der Hochschulen in Odesa. Nebenberuflich arbeitet er als Fremdenführer und Fahrer, hat oft mit internationalen Gästen in und um Odesa zu tun. Ich möchte wissen, wie es ihm derzeit in Odesa geht und was in der Stadt gerade passiert.

Roman, wie war der heutige Tag?

Schwierig, um ehrlich zu sein. Das hat nicht mal mit den Attacken Russlands zu tun. Sondern damit, dass ich heute einige Mal mitansehen musste, wie Züge mit Evakuierten den Bahnhof in Odesa verließen. Das ist nicht besonders angenehm. Doch leider ist das unsere heutige Realität.

Ist deine Familie bei dir?

Ja, meine Frau und ich haben lange darüber gesprochen. Sie hat gesagt, sie hat mehr Ruhe, wenn sie bei mir ist. Es ist ihr lieber, zu bleiben, als mit einem kleinen Kind in die Ungewissheit zu fahren. Für mich ist das schön, so muss ich nicht auch diesen Teil der Familie nur über Skype oder Messenger sehen.

Roman begleite mich bei meiner Suche nach deutschen Spuren im Schwarzmeerraum.

Wie verbringst du gerade deine Zeit? Fährst du Menschen zur Grenze der Republik Moldau?

Nein, ich fahre keine Menschen zur Grenze. Es gibt genug andere, die das machen. Ich will meine Zeit damit nicht verschwenden. Im Moment braucht man nämlich bis zur Grenze, die 50 Kilometer von Odesa entfernt liegt, etwa acht Stunden. Man braucht allein zwei Stunden, um aus der Stadt zu kommen. Denn es gibt viele Staus wegen zwei Brücken. Und dann natürlich die lange Schlange vor der Grenze. Und dann müsste ich ja noch zurückfahren, wenn ich die Leute an der Grenze abgeliefert hätte. Man muss verstehen, dass wir derzeit eine Sperrstunde haben. Alle Bewohner Odesas und der Oblast müssen bis 19 Uhr zu Hause sein. Man darf sich danach nicht mehr auf der Straße aufhalten. Um all das zu schaffen, ist das nicht möglich. Ich habe eine andere Aufgabe gefunden. Ich fahre Journalisten aus Frankereich durch Odesa und die Region, zeige ihnen hier alles. Ich denke, diese Aufgabe ist sinnvoller für mein Volk als einfach Leute zur Grenze zu fahren, da gibt es genug Leute.

Ich möchte diesen Text nutzen, um Sie, liebe Lesende, um eine Spende zu bitten. Roman möchte keine. Er sagt, sie haben derzeit ausreichend Geld. Aber in seinem Umfeld gibt es viele, vor allem ältere Menschen, die nicht fliehen können und bedürftig sind. Ihre Spende würde er dazu verwenden, diese Menschen in Odesa zu unterstützen. Für Details einfach eine Email an Roman senden (er kann auch Englisch): korom81@gmail.com

Ich bin stolz auf dich, dass du diese sinnvolle Aufgabe machst!

Danke. Ich mache einfach das, was ich kann. Ich kann nicht kämpfen. An der Front wäre ich keine Hilfe. Zumal dort gerade genug Leute sind, die bereit sind zu kämpfen. Es fehlen aktuell Menschen, die einfach dabei helfen könnten, dass alles irgendwie funktionieren würde, beispielsweise in Lebensmittelgeschäften. Das Sortiment ist jetzt viel kleiner, aber noch kann man Essen kaufen, muss nur häufiger hingehen und hoffen, dass etwas geliefert wurde. Jedenfalls sehe ich in unserem Supermarkt seit drei Tagen immer dieselben Mädchen an der Kasse. Ich habe sie gefragt: Ist sonst niemand da, der sie ablösen könnte? Sie meinten: Nein, alle sind weggefahren. Wir haben gerade eine sehr paradoxe Situation in der Ukraine. Wir haben kein Problem mit Geld, aber wir haben Probleme mit Waren und mit Angestellten, Dienstleistern.

Wie ist die Lage aktuell in Odesa?

Ich fahre recht viel, weil es ja mein Nebenjob ist. Außerdem leben meine Eltern allein und ich besuche sie oft, bringe ihnen etwas, helfe bei irgendetwas. So bin ich immer in Bewegung und sehe, was in der Stadt vor sich geht. Ich sage es ehrlich: Wir haben hier noch kein Charkiv und kein Kyiv. Und auch nicht Mariupol. Uns treffen Raketen, es wird irgendwo geschossen. Doch das Schlimmste ist es noch nicht. Das Leben in der Stadt geht weiter. Man kann zwar gerade kein Auto reparieren lassen oder neues Geschirr kaufen, denn solche Geschäfte sind geschlossen. Das ist ja nachvollziehbar, da kaum jemand in so einer Situation Geschirr kaufen würde. Wir haben viele Leute in der Stadt, die ein kleines Business haben. Viele von ihnen sind weggefahren. Fachgeschäfte und viele Dienstleistungen gibt es also aktuell nicht. Man kann nicht sagen, dass alles schlecht ist bei uns. Wir haben Strom, wir haben Wasser, wir haben Gas, Benzin. Ich würde also lügen, wenn ich sagen würde, dass wir hier in Odesa eine humanitäre Katastrophe hätten. Wenn ich all die Menschen sehe, die Odesa verlassen, bin ich in manchen Momenten überrascht. Uns ängstigt man derzeit aber mit den Kriegsschiffen, die in der Ferne stehen, die sich etwas entfernen und dann wieder annähern. Ich verstehe, dass das psychischen Druck erzeugen soll. Am ersten Tag starben viele Menschen durch Raketenangriffe. In letzter Zeit fliegen sie auch wieder, aber explodierten irgendwo und Menschen starben keine.

Sind Schulen gerade auch zu?

Ja, natürlich, auch die Hochschulen. Ich arbeite ja an der Universität. Nach ein, zwei Tagen Krieg meinte unsere Leitung, wir machen einfach Onlineunterricht. Doch ich sage es ehrlich: Als ich versuchte mit meinen Studenten online zu arbeiten, hat es nicht geklappt. Denn sie sind eingeschüchtert, sind am Zittern, nur wenige kommen zu den Zoom-Sessions. Sie können die Inhalte der Vorlesungen gerade nicht aufnehmen, das ist sinnlos. Auch andere Kollegen haben diese Erfahrung gemacht. Deshalb ist unsere Fakultät für zwei Wochen in die Ferien gegangen. Wenn wir den Krieg gewinnen, alles in Ordnung sein wird, dann können wir den Lernstoff nachholen, es ist ja nicht das Wichtigste im Leben. Deshalb arbeiten wir in dem Sinn weiter, dass wir uns mit den Studierenden austauschen, sie fragen, wie es ihnen geht. Wir tauschen uns auch im Kollegenkreis aus, denn die meisten sitzen ja eh zu Hause.

Ein Bild aus einer anderen Welt: Eine Sommernacht im Stadtgarten Odesas im Juni 2021.

Ist euer Bürgermeister, von dem in der Vergangenheit immer wieder behauptet wurde, er habe neben dem ukrainischen auch einen russischen Pass, gerade sichtbar?

Ja, hier und dort zeigt er sich. Er besucht Krankenhäuser oder verabschiedet Soldaten, die an die Front gehen. Er erfüllt seine Pflichten, aber nicht mehr. Aber es gibt einen anderen Bürgermeister in der Ukraine, der zum Helden geworden ist, der Bürgermeister von der Mikolaiv Oblast. Jeden Morgen meldet er sich via Videostream bei der Bevölkerung, zeigt die ukrainische Flagge, berichtet über die aktuelle Zahl der Angriffe oder freiwilligen Soldaten. Er ist aktiver, was die Kommunikation angeht. Er ist vielleicht gar nicht so mutig, wie er tut. Aber er stellt seine Region so dar, als sei sie in bester Ordnung.

Wie hat der Krieg dein Leben verändert?

In den vergangenen Tagen kam es zu einer Neubewertung meiner Werte. An erster Stelle steht, dass es zu Hause etwas zu essen gibt. Egal, wie viel das kostet, wir werden das schon zahlen können. Wichtig ist, dass das Auto vollgetankt ist. Natürlich wünscht man sich auch, nachts ruhig schlafen zu können, ohne von Explosionen geweckt zu werden. Früher dachte ich, es sei wichtig, etwas mehr Geld zu haben. Jetzt denke, wichtiger wären diese anderen Dinge. Geld kann man auch später noch verdienen. Natürlich leben wir in Sorge, doch wenn ich sehe, wie Menschen in Züge zur Evakuierung steigen, dann denke ich, dass ich nicht möchte, dass meine kleine Tochter traumatische Erlebnisse in Zusammenhang mit einer Flucht macht. Denn das bleibt für immer in ihrem Kopf. Viele Menschen sind weggefahren, das ist wahr. Aus meiner Wahrnehmung ist ein Drittel Odesas weggefahren. Das ist vielleicht auch gut. Denn in erster Linie sind die weggefahren, die große Angst und Panik haben. Angst und Panik sind nicht die besten Begleiter für das, was uns bevorsteht. Es werden wohl auch nicht alle zurückkehren. Und insgesamt wollen wir in erster Linie einfach nur Frieden.

Das Bild zeigt Odesa im März 2022, Roman hat es für mich aufgenommen.

Ich weiß aus persönlichen Gesprächen während meiner Zeit in Odesa, dass es in der Region auch Menschen gab, die sehr der Sowjetunion nachtrauerten und Putin gegenüber nicht abgeneigt waren. Hat sich das verändert?

Mein Vater war Jahre lang Fan von Putin. Im Zuge des Krieges hat er seine Meinung nicht unbedingt geändert. Aber er sagt kein Wort mehr darüber, wie gut Putin sein soll. Wenn etwas irgendwo weit weg ist, dann mag das gut erscheinen. Aber wenn er sieht, wie seine Enkelin leidet, dann findet vielleicht eine Neubetrachtung statt. Nicht vollständig, ein Mensch über 60 ändert seine Sichtweise nicht so schnell. Aber wenn es dich selbst betrifft, beginnst du vielleicht auf die Dinge skeptischer, genauer zu blicken. Dann ist vermutlich etwas nicht ganz so in Ordnung. Doch aus dem, was ich sehe, kann ich sagen, dass Putin das geschafft hat, was uns Jahre lang nicht gelungen ist: Die Ukraine ist so geeint wie nie. Da sind die Leute aus dem Osten der Ukraine, die immer Russisch gesprochen hatten und meinten, was genau sei die Ukraine eigentlich. Auf der anderen Seite die Westukrainer, die immer Ukrainisch sprachen und nicht verstanden, wie man nicht Ukrainisch spreche konnte. Sie alle stehen heute wortwörtlich in einer Reihe, zerstören russische Panzer und beide Gruppen sagen „Slawa Ukrajini“. Wenn man also in all dem Negativen etwas Positives finden möchte, dann ist es das: Das Land ist endlich geeint.

Wie ist es für euch gerade mit Verwandten in Russland?

Ich sage es mal so: Es gibt zunehmend weniger Familien in der Ukraine, die Freunde und Verwandte in Russland haben. Ich gebe mal ein Beispiel unseres gemeinsamen Bekannten S.: Seine Cousine lebt in Russland. Am zweiten Tag des Konflikts rief sie ihn an und sagte: „Mach dir keine Sorgen, unsere kommen und alles wird bei euch gut sein.“ Er war schon recht aufgewühlt und meinte: „Schwester (im Russischen für Cousine), ich werde mir erst keine Sorgen machen, wenn ich hundert eurer Soldaten eigenhändig getötet und vergraben habe.“ Und dann meinte er zu mir, er habe keine Cousine mehr. Und so etwas erzählen sehr viele Menschen. Das ist die eine Sache. Und die andere ist: Ich habe auch Freunde und Verwandte in Russland. Sie haben kein einziges Mal angerufen. Du hast mich angerufen, meine Freunde aus den USA rufen mich täglich an oder schreiben, wollen wissen, wie es uns geht, weil sie sich Sorgen machen. Bekannte aus Rumänien haben uns sofort eine Wohnung in ihrer Nähe angeboten, in der wir so lange leben könnten, wie wir möchten.

Meine Internetverbindung bricht kurz ab, Roman kommentiert und bringt mich etwas zum Lachen, Odesiten verlieren selbst jetzt nicht ihren Humor:

Bei euch in Deutschland ist selbst in Friedenszeiten die Internetverbindung schlechter als bei uns im Krieg. Tatsächlich sind die ersten Probleme mit dem Internet erst jetzt aufgetaucht: In Mariupol, dort ist es gerade langsamer als sonst. Aber das ist klar, die Stadt ist am Boden. Da kommt auch keiner mehr raus.

Roman, warum – glaubst du – melden sich deine Verwandten und Bekannten aus Russland nicht?

Ich denke, in erster Linie schämen sie sich. Und wenn sich ein Mensch schämt, kann er nicht den ersten Schritt tun. Denn klar: Wenn sie anrufen würden und mir irgendwas erzählen würden, mich vielleicht trösten würden – das könnte ich schwer ertragen. Auf der anderen Seite muss man sagen, dass viele von ihnen tatsächlich in ihrer eigenen Welt leben. Sie haben ihre eigenen Probleme und interessieren sich nicht dafür, was gerade in der Ukraine vor sich geht. Doch ich denke, auch diese Leute bekommen allmählich ein Verständnis dafür, was passiert, da Sanktionen über ihr Land regnen. Ich denke, noch nie hat ein Land so viele Sanktionen bekommen wie Russland seit dem Überfall auf die Ukraine. Vielleicht kommt ihnen allmählich in den Sinn, dass irgendein Fehler begangen worden ist. Vielleicht kommt es auch bei ihnen zu einer Neubeurteilung der Werte. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht fahren sie einfach bei erstbester Gelegenheit in die Türkei, oder wohin sie auch sonst ausreisen können und werden einfach in einem anderen Land weiterleben.

Danke, Roman, ich wünsche dir und deiner Familie alles Beste.

Ich danke dir.

Ich möchte diesen Text nutzen, um Sie, liebe Lesende, um eine Spende zu bitten. Roman möchte keine. Er sagt, sie haben derzeit ausreichend Geld. Aber in seinem Umfeld gibt es viele, vor allem ältere Menschen, die nicht fliehen können und bedürftig sind. Ihre Spende würde er dazu verwenden, diese Menschen in Odesa zu unterstützen. Für Details einfach eine Email an Roman senden (er kann auch Englisch): korom81@gmail.com
Dieses Bild nahm Roman im Juni 2021 von mir auf in einer ehemaligen deutschen Kirche in Neu-Karlsruhe (Mokolaiv Gebiet).

6 Gedanken zu „„Ich verstehe, dass das psychischen Druck erzeugen soll““

  1. Mein Vater stammt aus einer kleinen Gemeinde, damals „Alexanderfeld“ Kreis Nikolajew. Er studierte in schweren Zeiten kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Odessa. Sein Leben lang erzählte er von dieser Stadt. Fast dachte ich, dass Odessa die schönstte Stadt der Welt sein müsse. Manchmal übertrieb er sicherlich auch, aber so ist es eben bei Verliebten. Zum Beispiel meinte er, die Mailänder Scala käme nicht annähernd an das Opernhaus in Odessa ran. Seit geraumer Zeit wollte ich diese Stadt besuchen und den Versuch unternehmen, sie mit den Augen meines verstorbenen Vaters zu betrachten. Der Gedanke, dass sie, wenn sich die Strategie der Angereifer nicht ändert, total zerbomt wird, stimmt mich enorm traurig. Aber noch trauriger stimmt mich, dass so viele Menschen dort leiden und vielleicht auch sterben müssen. Ich hoffe und bete, dass das alles ein Ende hat, ein Ende, bevor Odessa in Schutt und Asche liegt.

    1. Odesa ist wunderschön und die Menschen in dieser Stadt besonders offen, humorvoll, Meister:innen des süßen Lebens. Ich wünsche sehr, dass dieser Krieg bald endet und niemand mehr zu Schaden kommen muss. Vor allem auch nicht Odesa und die Menschen dort.

      1. Hallo, mein Opa ist auch in der Südukraine geboren, im Dorf Neu-Hoffnung. Klingt zwar falsch, aber ich bin froh, dass er diesen Krieg jetzt nicht miterleben muss. Er hatte so ziemliche alle krassen Schicksalsschläge in seinem Leben erlebt, die man sich nur vorstellen kann.

  2. Wie auch immer dieser Krieg ausgehen wird: Generationen von Ukrainern werden Rußland hassen! Armseliges, kleines Rußland: so klein, nicht mal Platz für die eigenen Landsleute – die gehen lieber in den Westen! Und Rußland kann sich nur mit Gewalt nehmen, was es möchte – freiwillig will sich offenbar niemand mit Putin verbünden. Eifersüchtig wird der Westen beargwöhnt, statt das eigene, reiche und schöne Land gut zu bewirtschaften. Schade um die russischen Menschen!

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