„Es gab fünf, sechs Explosionen, in Odesa herrscht Panik, der Flughafen ist zu, an den Geschäften und Bankomaten haben sich lange Schlangen gebildet“, berichtet meine Freundin Karina in einer Sprachnachricht am Morgen des 24. Februars 2022. Ja, „berichtet“: Ich habe ihre Nachricht eben noch einmal angehört. Ihre Stimme klingt beherrscht, klar. Als würde sie über etwas sprechen, das sie im Fernsehen sieht und nicht etwas, das direkt vor ihrer Haustür passiert. Im Laufe der kommenden Wochen lerne ich jedoch die Varietät ihrer Stimme kennen: Mal wird sie brüchig, leise, dann wieder kraftvoll und etwas heller. Doch Karinas Worte schmecken immer gleich: nach Schmerz, nach Entsetzen und nie wieder nach der gewohnten, leicht salzigen Luft am Strand von Odesa. Wo unser Lachen im Sommer 2021 erklang und das Glück unerschöpflich schien.
Nach ihrer Sprachnachricht an diesem Morgen vor einem Jahr, der sich wie bei so vielen meiner Freunde für immer ins Gedächtnis eingebohrt hat, breche ich in Tränen aus. Fassungslosigkeit rinnt über mein Gesicht, als meine Tochter mich fragt, was los sei. „Es ist Krieg in der Ukraine, in Odesa.“ Odesa kennt sie, sie war im Sommer mit mir dort, hat jeden Tag Straßenkatzen gefüttert und das warme Wasser des Schwarzen Meers genossen. Fassungslosigkeit nun auch in ihren Augen. Später malt sie Ukraineflaggen zwischen die Prinzessinnen ihrer rosa Welt, die sie um ein helles Blau und Gelb erweitert, und begleitet mich bei „meinen Einsätzen“, wie sie es nennt: Wenn wir für ukrainische Geflüchtete, die nun nach Heidelberg und Mannheim gekommen sind, einkaufen.
Es ist unser Krieg
Wir sprechen nur vom „Vierundzwanzigsten“, wenn wir den Tag des russischen Angriffs meinen. Wir – alle, die der russische Angriffskrieg berührt wie mich, ob aus Deutschland, Russland oder der Ukraine. Der Vierundzwanzigste – er legt für Monate einen schwarzen Schleier auf mich. Fortan sehe ich mit Erstaunen Menschen in Cafés, die lachen, als sei nichts gewesen, sehe auf meinem Handy Instagrammer, die weiterhin über ihre Yogaroutine posten – während ich gedanklich an einem Grab stehe und weine. Wie kann ihr Leben so unbeschwert weitergehen, während die Ukraine bombardiert wird? Das Land, aus dem meine Großeltern nach Kasachstan deportiert worden waren, das Land, das ihre Heimat war und sich für mich wie eine anfühlt. Verstehen sie denn nicht, was da gerade passiert? Dass es nicht um die Ukraine geht, sondern um die demokratische Grundordnung Europas? Dass es auch unser Krieg ist, den wir mit allem, was wir haben, gewinnen müssen?
Russlanddeutsche Verwandte
Das Schlimmste jedoch folgt erst: Als ich Nachrichten von Freunden und Verwandten bekomme, die Putin loben und von einem Befreiungskrieg in der Ukraine sprechen. Als sie mir Videos mit Kreml-Propagandistin Alina Lipp schicken – jede Nachricht trifft mich wie eine Ohrfeige. Ich taumele. Meine Erklärungen ersticken sie mit noch mehr Parolen, die das russische Staatsfernsehen in ihre Köpfe eingebrannt hat. Ich gebe auf und blocke sie in den Messengerdiensten. Einige entsperre ich wieder: Sie haben sich später entschuldigt, seien überwältigt und verwirrt gewesen. Andere glauben bis heute Putins Lügen und nennen mich „Kriegstreiberin“, weil ich mich für Waffenlieferungen an die Ukraine ausspreche. Sie verstehen nicht, dass Verhandlungen mit Russland erst sinnvoll sein werden, wenn die Ukraine den Aggressor auf dem Schlachtfeld besiegt hat.
Wie eine Narbe, die bleibt
Der Schleier hat sich allmählich gelöst. Ebenso wie Karina habe ich mich an den Krieg gewöhnt. Das Entsetzen bleibt. Auch die Brüchigkeit, die der Vierundzwanzigste in mein, unser Leben gebracht hat. Und die Unplanbarkeit. Auch das verbindet uns, die wir nur vom Vierundzwanzigsten sprechen: Wir machen keine Pläne mehr, nicht mal mehr für die kommende Woche. Als hätten wir auf eine rote Herdplatte gefasst, werden wir die Narben des Vierundzwanzigsten nie wieder los: Jede Sekunde kann eine Sprachnachricht dein Leben anhalten. Wieder auf „Play“ zu drücken, macht plötzlich Angst. Und doch müssen wir es tun: zuhören und der Ukraine so lange helfen, bis ihre Stimme wieder leuchtet.
Wenn doch so viele Kontakte nach Russland bestehen, dann müssten die doch alle genutzt und nicht abgebrochen werden. Mit einer abgerüsteten Sprache können doch privat „Welten“ bewegt werden! Oder zumindest erste Schritte zu einer besseren Information, die ja auf den bestehenden Vertrauendverhältnissen aufbauen.
Mein Vater wurde in die Ukraine gezwungen und dort zweifach schwer verletzt. Er hasste schon 1941 den Krieg so, dass auch ich zweifle, ob Waffen und heldenhafte Verteidigung heute human sein können.
Paris, Ostberlin, Ungarn und Prag 1968 könnten doch auch mitbedacht werden, ebenso wie eine Selbstbestimmung der „Völker“, dem schon vom Völkerbund nicht beachteten Grundsatz der Wilsonschen Demokratietheorie. Allerdings ist es dafür jetzt erst einmal zu spät.
Ich glaube, wir überschätzen die Macht der Propaganda und lähmen uns selbst. Der Mensch will sich nur nicht in seiner angesagten Gemeinschaft isolieren und denkt im Grunde human, auch auf russisch. Das müssen wir erstreben! Masaryk: Die Kriegsmüdigkeit wächst mit der Zeit auf beiden Seiten.
Unser Kanzler macht es richtig, wenn er versucht ein Gleichgewicht zu schaffen und zu stabilisieren. Ein Siegerfriede dagegen schafft häufig wieder Neuanfänge .
Ihnen immer wieder danke für die Nachrichten und Kraft für die Mitarbeit an der Suche nach einem Ausweg
Vielen Dank für Ihre Nachricht. Die Kontakte, die ich abgebrochen haben, leben alle seit 30 Jahren in Deutschland – das ist ja das Tragische 🙁
Liebe Ira Peter,
auch ich fühle täglich Entsetzen, Trauer, ein Nicht-glauben-wollen: 2022 einen Kriegsausbruch in dieser Dimension erleben zu müssen, war unvorstellbar.
Wer im Westen das Wort „Freiheit“ noch versteht, muss alles tun, was ihm möglich ist: Spenden geben, tatkräftig helfen, Fake News widersprechen, politische Wirrköpfe ansprechen. Ja, und wir müsse auch notgedrungen akzeptieren, dass die derzeitige russische Führung nur durch Waffen zu überzeugen ist. Pazifismus bedeutet hier leider Kapitulation – oder die bequeme Haltung, dass „die in der Ukraine jetzt mal einlenken sollen, damit Ruhe ist“. Würde jemand von den jetzigen Friedens- oder Kompromisspredigern im eigenen Haushalt einem eindringenden Verbrecher, der schon Dinge zerstört hat und Mitbewohner misshandelt oder gar getötet hat, sagen, man könne jetzt mal „einen Kompromiss schließen“ und er könne „einen Teil vom Haus inkl. Mitbewohner/in haben“? Wohl kaum.
Alles Gute, denken wir weiter an Odessa, Bessarabien und die Ukraine!
Niko Lamprecht
Hallo,
Karina ist auch eine gute Freundin von mir. Ich mache mir jeden Tag Sorgen.
Zugleich hat uns der schlimme Krieg aber auch einander näher gebracht.
Einige Tage nach Kriegsbeginn hab ich ihr einen Brief mit einem kleinen Büchlein geschickt.
Damals hat man mir auf der Post gesagt, dass es sinnlos wäre, jetzt noch etwas in die Ukraine schicken zu wollen, der Brief würde nicht durchkommen und vermutlich sei auch Odessa in wenigen Tagen besetzt.
Ich habe abder gesagt, man solle es versuchen, vielleicht kommt der Brief doch an.
Und meine Hoffnung wurde erfüllt: es hat zwar gedauert aber der Brief ist durchgekommen.
AUch ich war am Anfang pessimistisch und auch jetzt gibt es immer wieder Momente, an denen ich verzweifle. Dann aber geben wir uns gegenseitig Mut.
Ich habe gesehen, wie Taper Karina, wie Taper das ukrainische Volk ist und als ich dann gehört habe, dass Selensky eine angebotene Fluchtmöglichkeit aus Kiew mit den Worten „Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, ich brauche Munition“ abgelehnt hat, da wusste ich, dass die Ukraine niemals aufgeben wird- Wenn wir alle zusammenhalten und nicht nachlassen, die Ukraine zu unterstützen (und damit meine ich nicht nur Waffen, sondern alles, was irgendwie helfen kann), dann bin ich mir ganz sicher, dass der russische Diktator besiegt und seine Truppen aus den besetzten Gebieten vertrieben werden kann.
Ich freue mich auf den Tag, an dem dieses Ziel erreicht sein wird und wir dann hoffentlich bald die Ukraine als neues Mitglied in der EU begrüßen können.