Güldendorf will seinen Namen zurück

Google kennt „Güldendorf“ schon. Gibt man den Namen in der Suchmaschine ein, zeigt sie als ersten Treffer das Dorf Krasnosilka nördlich von Odesa an. Ein Teil der Menschen in Krasnosilka, wie Güldendorf seit 1945 offiziell heißt, möchte den einst von deutschen Kolonisten vergebenen Ortsnamen zurück. Warum und wie die Bürgermeisterin die angestrebte Volksabstimmung betrachtet, darüber sprach ich mit ihr und einer „Güldendorf“-Aktivistin.  

Elena zeigt die Karaffe, die Deutsche unter dem Haus ihrer Großeltern vor ihrer Vertreibung 1944 versteckt haben müssen.

Es könnte eine Karaffe für Wasser oder Milch gewesen sein. Fein gemalte Vergissmeinnicht zieren sie. Elena Borishpolets und ich rätseln, wie alt das Porzellangefäß sein könnte. Der Aufdruck eines möglichen Produktionsbetriebs auf dem Boden fehlt. „Auf jeden Fall muss sie der deutschen Familie gehört haben, die in dem Haus meiner Oma gelebt hatte“, erklärt Elena. Ihre Großeltern kamen kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges nach „Güldendorf“, so nennt sie ihr Heimatdorf am nördlichen Stadtrand Odesas. Offiziell heißt der Ort im Süden der Ukraine seit 1945 jedoch Krasnosilka. Um die Erinnerung an die ehemaligen Bewohner zu löschen, bekamen damals deutsche Siedlungen in der gesamten Sowjetunion neue Namen.

Im Haus von Elenas Großeltern, das mittlerweile einer anderen Familie gehört und das kurz nach unserem Besuch abgerissen werden soll.

In den Siebzigern brach im Wohnzimmer ihrer Großeltern ein Wasserrohr. Der Boden bekam an einer Stelle Risse und diese Karaffe kam zum Vorschein. Elena stellt sie behutsam in den Schrank zurück. Vom anderen Geschirr, das die Deutschen dort versteckt haben müssen, zeugten nur Scherben. Auch in Brunnen und Gärten sollen die Güldendorfer Wertvolles versteckt haben, bevor die deutsch-rumänischen Besatzer sie im März 1944 wegen heranrückender Sowjettruppen ins besetzte Polen trieben. Zurückgekehrt ist niemand.

Jede Kolonistenfamilie besaß einen eigenen Süßwasserbrunnen im Hof.

„Jeder hier weiß, dass Deutsche Güldendorf gegründet und hier gelebt haben. Deshalb nennen viele den Ort auch heute noch so“, sagt die 41-jährige Elena. Als vor einigen Jahren die Ukraine begann, im Zuge ihrer Dekommunisierungsreform Straßennamen und Orte von sowjetischen Namen zu befreien, hatte sie Hoffnung: „Krasnosilka klingt nach rotem Dorf, aber die Stadtverwaltung hat es prüfen lassen: der Name soll für schönes Dorf stehen, was das Adjektiv krasno auch bedeutet.“ Krasnosilka blieb.

Den Stuck aus dem Wohnzimmer montiert der neue Besitzer vor dem Abriss des Hauses ab und schenkt ihn Elena.

Elena, die als Autorin und Kulturmanagerin arbeitet, setzt sich trotzdem dafür ein, dass der sowjetisch klingende Name vom Ortsschild verschwindet. „Wir sind eine progressive Generation. In meinem Umkreis unterstützen das alle“, sagt sie. Im Alltag habe sich „Güldendorf“ ohnehin längst durchgesetzt: Ein Klub für Intellektuelle und ein Tanzverein in Krasnosilka heißen so, eine Initiative nannte sich während des Lockdowns „Taxi nach Güldendorf“. „Das waren Menschen, die private Autofahrten nach Odesa zur Arbeit organisierten, als zeitweise der Bus nicht mehr in die Stadt fuhr“, so Elena.

Ehemalige evangelische Kirche in Güldendorf, die das Zentrum des 1.300-Seelen-Ortes bildete und in der Sowjetzeit als „Klub“ diente.

Sie möchte, dass ihr Heimatdorf mit etwa 5.000 Einwohnern kulturell wächst. Dazu gehöre für sie auch der historische Name: „Ich finde, dass wir so mit der Geschichte unseres Dorfes verbunden bleiben“, sagt sie. Und Geschichte sei immer auch Zukunft: „Mir ist zum Beispiel klar, dass man der alten deutschen Kirche gegenüber dem Haus meiner Oma nicht ihr altes Aussehen zurückgeben kann. Niemand wird das finanzieren, weder die Ukraine noch Deutschland. Aber man könnte in dem Gebäude ein Kulturzentrum aufmachen, wo Güldendorfer Platz für kulturelle Angebote hätten und einen Erinnerungsort an die Menschen, die dieses Dorf gegründet hatten.“ Sie spricht immer schneller, ihre Augen leuchten: „Wir könnten auch gemeinsam mit Deutschland kulturelle Projekte umsetzen. Leider ist das nicht allen Bewohnern klar“, ihre Hände kehren in den Schoß zurück.

Reich gedeckter Tisch bei Elena und ihrer Mutter im Garten.

Wir sitzen mittlerweile im Garten von Elena und ihrer Mutter. Die Sonne geht gerade unter, es ist immer noch über 30 Grad. Im Juli kühlt es an der Schwarzmeerküste auch nachts selten ab. Sie haben den Tisch üppig mit regionalen Spezialitäten gedeckt: kleinen Sardellen auf schwarzem Brot, in Knoblauchöl eingelegten Auberginen und gebratenem Schwarzmeerfisch.

Marina sagt: „Wir würden uns gern austauschen mit Nachkommen der Güldendorfer, würden sie gern einladen zu uns. Letztes Mal war ein Treffen rein zufällig entstanden: Wir haben ein paar Besuchern deutsche Häuser gezeigt, die sie gesucht hatten.“

Zu uns hat sich ein weiterer Gast gesetzt: Marina Archirij, Bürgermeistern der Gemeinde Krasnosilka. „Technisch wäre die Umbenennung keine große Sache“, sagt sie. Man brauche genügend Menschen, die den Vorschlag offiziell bei der Verwaltung einreichen. Dann würden die Abgeordneten darüber abstimmen, ob ein Referendum sinnvoll ist. In anderen Gemeinden habe eine Umbenennung bereits geklappt: 2016 hatte beispielsweise Karakurt an der Grenze zu Moldau seinen historischen bulgarischen Namen zurückerhalten. Im selben Jahr bekam auch Liebental, westlich von Odesa, den einst deutschen Namen wieder, nachdem der Ort während der Okkupation von 1941 bis 1944 Adolfstal und danach Lenintal hieß.

Einer von nur sehr wenigen deutschen Grabsteinen auf dem Friedhof in Güldendorf.

Doch Marina zweifelt, dass eine Umbenennung in den kommenden Monaten stattfindet: „Einerseits wird es immer auch Gegner geben, die keine Lust darauf haben, ihre Dokumente wegen des neuen Namens erneuern zu lassen“, sagt sie. Ein zweiter Punkt sei aber viel gewichtiger aus ihrer Sicht: „Wir haben gerade ganz andere Herausforderungen, zum Beispiel mit der Wasserversorgung hier am Liman, Tariferhöhungen für Strom und vor allem mit Corona“, sagt die studierte Finanzbuchhalterin. Wieder gehen Elenas Hände in die Höhe: „Die Kultur darf nicht immer hintenangestellt werden“, sagt sie laut. Zum Krieg in der Ukraine sei es unter anderem auch gekommen, weil der Kultur zu wenig Beachtung geschenkt wurde: „Die Menschen auf der Krim haben nicht mehr verstanden, zu welcher Nation sie gehören, weil weder in ukrainische Zeitungen dort noch in kulturelle Projekte investiert wurde. Nach fünf, sechs Jahren wird sich zeigen, dass man die Kultur auch heute nicht vernachlässigen darf.“

Der Friedhof (rechts) am Ufer des Limans „Kujalnik“, einer Salzwasserlagune.

Eine Hoffnung sieht sie trotzdem: Die Befreiung von sowjetischen Namen ist in der Ukraine immer noch in vollem Gange. Kürzlich wurde die „Sowchosestraße“ in Krasnosilka zur „Kujalnikstraße“ – in Anlehnung an die Salzwasserlagune, an der das Dorf liegt. Zusammen mit anderen Aktivisten hat Elena in einem offiziellen Schreiben an die Verwaltung nun vorgeschlagen, eine der Dorfstraßen zur „Güldendorfstraße“ umzubenennen. Zumindest eine Absage sei noch nicht gekommen.

Über Güldendorf 

Güldendorf wurde 1817/1830 von 94 Familien, überwiegend aus Württemberg, gegründet. Die Kolonie gehörte zum Großliebentaler Gebiet und wurde auf dem Land angelegt, das Herzog Richelieu im Auftrag des Zaren Alexander I in der Umgebung Odesas aufkaufte. Epidemien und Missernten kennzeichneten das Leben der Güldendorfer in den frühen 1830er Jahren. 

Jakob Hutt, der gottergebene pietistische Gemeindevorstand von Güldendorf, schilderte in einem Brief in die Heimat Folgendes: „Zufrieden mit allem, wie es Gott führte und fügte, empfanden wir doch auch im Jahr 1832 seine züchtigende Hand. Er sendete unter unser Vieh die Hornseuche, dabei wir vieles Vieh verloren haben, unerschrocken über den Verlust ließ Er der Herr seine Hand noch schwerer auf uns lasten, und entzog uns seinen Segen in den Jahren 1833 und 1834, dass die Erde nicht mehr ihre Frucht gab und gänzlicher Mißwachs war.“ 

Später stimulierte die Nähe zu Odesa die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonie. Im Ort gab es eine Volksschule, an der 1912 drei Lehrer 185 Schülern unterrichteten. Die Einwohnerzahl lag 1943 bei 1.381. 

1944 wurden alle Güldendorfer in den Warthegau vertrieben. Nach Ende des Krieges gelang ein Teil von ihnen in die Bundesrepublik Deutschland und DDR, ein anderer wurde von den Sowjets "repatriiert" und nach Sibirien und Zentralasien zur Zwangsarbeit verbannt. In ihre Heimat Güldendorf durften die Menschen auch Jahrzehnte nach Stalins Tod nicht zurückkehren. Heute leben keine Deutschen in Güldendorf.
Unterschriften der Gründer von Güldendorf- aus einem Buch über die Geschichte Güldendorfs auf Russisch und Ukrainisch, das das Dorf Krasnosilka herausgegeben hat.

13 Gedanken zu „Güldendorf will seinen Namen zurück“

  1. Liebe Ira
    Wieder so ein schöner Bericht!!
    Solche Frauen wie Elena und Marina müsste es dort wohl mehr geben…., die sich u. a. für die Sache mit der Umbenennung einsetzen.
    Der reich gedeckte Tisch, sieht super aus.
    Man möchte gerne dabei sein!!
    Da wurden sie sehr verwöhnt!!
    Jetzt komnen aber ihre Berichte aber Schlag auf Schlag, freut mich sehr.
    Liebe Grüße
    Sabine

    1. Liebe Sabine, herzlichen Dank für Ihre Zeit und Aufmerksamkeit. Ich freue mich sehr, wenn ich Menschen mit dem erreiche, was ich wichtig finde. Im Sommer war es fast unmöglich zu schreiben, weil ich sehr viel unterwegs war, viele Menschen getroffen und ihre Geschichten aufgesaugt hatte. Jetzt kehrt etwas Ruhe in Odesa ein und ich kann mich zurückziehen, um die Geschichten zu teilen, was ich gerade auch sehr genieße 🙂 es kommt also noch mehr!

  2. Adolfstal, Lenintal, jetzt Liebental – es gibt also Fortschritt in der Welt!

    Die Kirche müsste man nicht renovieren, nur weihen. Schließlich ist Jesus auch bloß im Stall geboren.

    Ein sehr anregender und schöner Bericht.

    1. Vielen Dank fürs Lesen! Es wäre schön, wenn aus der Kirche etwas gemacht werden würde und überhaupt aus dem Dorf, das über so viel Geschichte und so viele engagierte Menschen verfügt.

  3. Guten Tag Frau Peter!
    Sie beweisen mit jedem Text, dass das Leben vielfältig weitergeht – trotz allem. Bei Recherchen in der digital Library von Odessa sind vor Jahren schon Schätze und bedrückende Dokumente zu finden gewesen, als ich für mich und Aussiedler nach unserem Namen suchte und entfernte Verwandte aus dem Ascher Ländchen (Böhmen) auf ihrem Weg nach Odessa und die Krim fand. Californien, Petersburg, Ulan Batur, Weimar und der Warthegau sind mir bei dieser Suche als weitere Stationen begegnet.
    Herzlichen Dank vor allem für ihre Vermittlungsarbeit. In der Hoffnung, dass Sie auch weiterhin die Möglichkeit haben, von ihren Qualifikationen leben zu können.
    R. Rogler

    1. Herzlichen Dank fürs Lesen und auch Ihre Nachricht. Ich bin gestern Abend auch noch auf englsichsprachige Literatur zu Güldendorf gestoßen, wo es darum ging, dass Kinder dank amerikanischer Essenslieferungen während des Holodomors in Güldendorf überleben konnten. So viel Grausamens ist während der Sowjetzeit und Okkupationszeit durch Deutshce und Rumänen in der Ukraine passiert – bislang wurde höchstens an der Oberfläche gekratzt. Ich hoffe, wir werden künftig mehr erfahren und ja: Ich hoffe auch weiterhin den Luxus haben zu können, mich diesen Themen zu widmen. Alles Gute für Sie und viele Grüße aus dem herbstlichen Odesa!

  4. Gueldendorf = Güldendorf … zunaechst hiess das Dorf Gyldendorf …
    benannt nach einem Herrn Gyldenschanz welcher den Siedlern 1830 half
    Ich ueberlege ob sich nicht die Bundesrepublik Deutschland an den Kosten
    beteiligen koennte im Rahmen des § 96 BVFG ein Versuch waere es wert

  5. Hallo, als Güldendorfer (in Brandenburg) habe ich mit Interesse diesen schön geschriebenen Artikel gelesen. Welch Schicksal! Unser Dorf hier wurde 1937 vom slawischen Namen Tzschetzschnow in Güldendorf umbenannt, dieses bei Odessa umgekehrt 🙂 Auch hier blieb der Name, niemand dachte über eine Zurückbenennung nach. Zwischen uns liegen 1.700km, vielleicht gibts ja mal die Gelegenheit auf ein Besuch?

    http://www.gueldendorf.de/guldendorf/geschichte

  6. Guten Tag, Frau Peter!
    Vielen Dank für den aufschlussreichen Artikel! Sie erwähnen darin ein Buch über die Geschichte Güldendorfs, könnten Sie bitte den Titel des Buches verraten? 🙂
    Liebe Grüße
    Rita

  7. Hallo Frau Peter,
    bin zufällig auf Ihr Bericht gestoßen. Meine Mutter und ihre Vorfahren kommen aus Güldendorf. Ich beschäftige mich mit Geneologie.
    Die Namen von meinen Vorfahren sind: Schacher, Kast (wohnte zuerst in Lustdorf), Fischer, Ziegler, Sommerfeld, Hetzel und andere. Ich glaube, die waren schon alle miteinander verwand. Der erste auf der Liste rechts ist Matthias Schacher, das ist der Großvater von meiner Oma. Ich könnte die alle Namen auflisten. Habe auch Plan von Güldendorf nach der Beschreibung von älteren Anwohnern erstellt. Leider sind die schon verstorben. Könnte ihnen auch den Plan zukommen lassen. Danke für Ihre Arbeit. Lidia Molke

  8. Übrigens, ich liebe Odessa. Habe 5 Jahre da studiert. Aber damals haben wir darüber leider nicht gesprochen und zu meiner Schande, war ich nicht in Krasnosilka.

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