Sein Name ist weit über die Ukraine hinaus bekannt, auch mit Deutschland verbinden ihn viele gemeinsame Projekte und Freundschaften: Roman Schwarzman. Er ist Mitgründer und Vorsitzender des Verbandes der Ghetto- und KZ-Überlebenden in Odesa und setzt sich seit über 30 Jahren für Holocaust-Überlebende ein. Warum er sein Leben als typisch für einen sowjetischen Juden bezeichnet, wie er das Ghetto in Berschad, nördlich von Odesa, überlebte und über seine Verbindung zu Steven Spielberg – darüber sprach ich mit ihm.
Kaum betrete ich sein Büro, springt Roman Schwarzman von seinem Schreibtischstuhl auf, zieht mich mit einem warmen, festen Händedruck in den Raum und öffnet einen Schrank. „Kaffee oder Tee?“, möchte er wissen und hantiert sofort mit Wasserkocher, Kaffeepulver und einer Dose voller Süßigkeiten herum. Ich will ihm helfen, was er sofort ablehnt. Schnell merke ich: Das ist kein gebrechlicher 85-Jähriger. Das ist ein junger Mensch, der nur aussieht wie ein älterer, gut gekleideter Herr.
Nun sitzen wir uns gegenüber, vor uns zwei Tassen Kaffee auf einem Schreibtisch, der sich unter Bergen von Unterlagen nur erahnen lässt. Papier, Aktenordner, Bücher und Kisten stapeln sich im gesamten Büro, hier im Zentrum Odesas, und spiegeln die vielseitige Arbeit Roman Schwarzmans wider. Neben anderen Ämtern ist er Vorsitzender des Verbandes der Ghetto- und KZ-Überlebenden in Odesa. Sein Engagement bekommt weltweit Achtung, auch in Form eines Bundesverdienstkreuzes. Im Regal neben mir finden sich viele Auszeichnungen mit seinem Namen drauf, mal auf Russisch, mal auf Deutsch oder auf Hebräisch. Mein Blick fällt auf eine Urkunde mit einer Unterschrift von Steven Spielberg. „Was hat es damit auf sich?“, möchte ich wissen.
„Steven Spielberg hatte 1994 ein Projekt ins Leben gerufen, um Zeitzeugenberichte von Holocaustüberlebenden zu dokumentieren“, erklärt mir Schwarzman. Seine „Shoah Foundation“ setzte sich zum Ziel, weltweit über 50.000 Interviews filmisch aufzuzeichnen, zu katalogisieren und zu archivieren. 200 dieser Interviews führte Schwarzman. „Wir waren 90 Interviewer aus der Ukraine und wurden in Kyjiw geschult, mit Prüfung und allem“, beschreibt er. Später bekam er eine Namensliste mit Überlebenden in Odesa. Jedes Interview hielten zwei Kameramänner fest. „Es war sehr anstrengend. Die Interviews dauerten manchmal zehn Stunden ohne Pause, manche waren sogar auf Jiddisch“, sagt er. Das sprechen außer ihm nur noch sehr wenige Menschen in der Ukraine.
Das Telefon unterbricht unsere Unterhaltung, kurz darauf kommen zwei Frauen in das Büro. Es geht um das Holocaustmuseum in Odesa, das Schwarzman vor zwanzig Jahren mit anderen Ehrenamtlichen gegründet hat. Für jede hat er ein paar Komplimente und Scherze bereit. Ich bin ein wenig überrascht von seiner Leichtigkeit. Unbewusst hatte ich wohl angenommen, dass ein Mensch, der während des Holocausts in einem Ghetto hungern musste und in dieser Zeit Familienangehörige verloren hat, besonders ernst sei.
Der „jüdischste Jude Odesas“
Wir sind wieder zu zweit und ich möchte mehr über die Zeit erfahren, bevor er als Erwachsener nach Odesa zog. Geboren wurde der „jüdischste Jude Odesas“, wie Schwarzman sich mit einem verschmitzten Lächeln selbst bezeichnet, in Berschad, 300 km nördlich von Odesa. Bis zur deutsch-rumänischen Besatzung des Ortes im Jahr 1941 lebten dort rund 5.000 Jüdinnen und Juden. „Wenn meine Schwester aus Hamburg kommt, fahren wir jedes Jahr zum Grab unserer Eltern nach Berschad. Dort leben heute aber nur noch eine Hand voll Juden. Viele Orte in der Ukraine, wo vor dem Krieg jüdische Kultur geherrscht hatte, existieren nicht mehr“, sagt er.
Sein genaues Geburtsdatum kenne er nicht: Bei einem Versuch, evakuiert zu werden, gingen Dokumente nämlich verloren. Im Sommer 1941 müsste er aber fünf gewesen sein. „Mein Vater war damals an der Front. Uns wurden ein Wagen und zwei Pferde zugeteilt. Durch Berschad ging eine große Kolonne, wir schlossen uns an und fuhren in Richtung Charkiw. Unterwegs wurden wir bombardiert, mussten uns in Sonnenblumenfeldern verstecken.“ Weil ihnen deutsche Panzer entgegenrollten, kehrten sie nach zwei Wochen zurück. „Kurz darauf kamen Deutsche nach Berschad. Wir sollten uns auf dem Markplatz versammeln“, erzählt er. Um einen Teil des Dorfes wurde ein Maschendrahtzaun gezogen. Bald kamen deportierte Jüdinnen und Juden aus Bessarabien und der Bukowina nach Berschad, wo zwei Ghettos entstehen und 25.000 Menschen sterben sollten.
Die Rumänen bewachten, die Deutschen kontrollierten
„Die Deutsche waren nur anfangs da, sie organisierten das Ghetto, dann verwalteten das die Rumänen. Nur manchmal kamen die Deutschen, um alles zu kontrollierten“, fährt Schwarzman fort. Weil er das wahrscheinlich schon oft gefragt wurde, fügt er von sich aus hinzu: „Wir trugen keine Sterne.“ Roman war das siebte Kind von insgesamt neun, ein älterer Bruder war an der Front. Er starb 1941 bei Leningrad. Weil nur Arbeitende Essen bekamen, beherrschte Hunger und die Suche nach Essbarem das Leben im Ghetto: „Manchmal konnte man etwas gegen ein Stück Brot tauschen. Unsere ukrainischen Nachbarn gingen hin und wieder das Risiko ein und gaben uns Essen.“ Doch die Rumänen seien sehr geizig und grausam gewesen. Wurde jemand bei beispielsweise Klauen erwischt, konnte das den sofortigen Tod durch Erschießen bedeuten. „Mein älterer Bruder schaute nach den Pferden der Rumänen. Er klaute dort einmal etwas Hafer. Ein Rumäne sah das und brach Isaak ein paar Rippen. Sein ganzer Brustkorb war für den Rest des Lebens deformiert“, sagt Schwarzman. Ein anderer Bruder fiel bei Arbeiten von einer Brücke. „Man dachte, er wollte abhauen und erschoss ihn“, sagt er. Am Ende war noch „eine Tragödie“ mit seiner Schwester: „Sie putzte in der Kaserne, in der die Rumänen lebten. Dann kam sie für ein paar Nächte nicht. Als sie wiederkam, war sie in schrecklichem Zustand. Dann hat sie einen Jungen geboren.“
Im März 1944 befreite die Rote Armee das Ghetto, das mittlerweile zu den größten der Südukraine zählte. „Wir waren ganz abgehungert, kiloweise hingen Läuse an uns. Wenn ich mich erinnere, wie wir 1945 dann in der Schule saßen und dann diese fetten Läuse überall von uns herunterkletterten. Tag und Nacht haben wir sie zerdrückt.“ Trotz dieser Erlebnisse klingt Roman Schwarzman nicht verbittert. Vielmehr seien Erinnern wichtig und Versöhnung. Mit seinem Engagement trägt er seit über 30 Jahren dazu bei.
Sprechen über Holocaust erst nach Ende der Sowjetunion
„In der unabhängigen Ukraine wurde es plötzlich möglich, über Juden und den Holocaust zu sprechen. Themen, die es in der Sowjetunion praktisch nicht gab, weder Juden noch den Holocaust“, sagt er. Seitdem habe er zusammen mit vielen Engagierten, auch in Deutschland wie beim Berliner Zentrum Liberale Moderne, einiges erreicht. Allein der Verband der Ghetto- und KZ-Überlebenden in Odesa habe seit 1991 mehr als 45 Erinnerungsorte geschaffen. „Uns erreichen immer noch Hinweise, auch kürzlich wieder in der Nähe von Odesa, wo ein Massengrab entdeckt wurde“, beschreibt er die Arbeit der Assoziation, die es mittlerweile auch in anderen ukrainischen Städten und weiteren ehemaligen Ländern der Sowjetunion gibt.
Sie setzt sich auch dafür ein, dass Überlebende des Holocausts Hilfe erhalten. „Wir haben uns Anfang der 1990er mit der deutschen Regierung in Verbindung gesetzt. Deutschland hatte bereits Ausgleichszahlungen an jüdische Opfer in anderen Ländern geleistet, aber nicht in der Sowjetunion. Stalin hatte das damals abgelehnt, unsere Leute hätten sowas nicht nötig“, beschreibt er die Anfänge. In Odesa gab es damals 2.500 Überlebende. „Wir mussten dann nachweisen, dass wir Opfer waren, viele Dokumente ausfüllen“, so Schwarzman. Bei einigen habe es dann geklappt.
Vieles müsse noch immer aufgearbeitet werden, denn in der Sowjetunion wurden laut offizieller Geschichtsschreibung nicht Juden ermordet, sondern Sowjetbürger:innen. Gleichzeitig setzte sich nach dem „Großen Vaterländischen Krieg“ ein Antisemitismus fort, der in Wellen bereits zur Zarenzeit Opfer forderte. „Anhand meiner Biografie erzähle ich immer die Geschichte eines Juden in der Sowjetunion“, erklärt er. „In der Sowjetunion sagte man: Du bist nicht durch den fünften Graphen gekommen.“ An fünfter Stelle stand in sowjetischen Pässen die Nationalität und jüdisch galt als solche. „Meine Tochter durfte nicht Medizin studieren, weil sie das Falsche in der fünften Zeile stehen hatte, mein Bruder ließ sich von seiner Ehefrau scheiden, damit der gemeinsame Sohn den ukrainischen Nachnamen der Mutter bekommt und keine Nachteile hat. In der Sowjetunion schämten wir uns für unsere Namen“, sagt Schwarzman. Laut Pass hieße er Ruwin, das sei ein biblischer Name. „Ich konnte nie Leiter in meinem Betrieb werden. Man sagte mir, ich soll meinen Namen ändern. Und meine Tochter lag uns auch ständig in den Ohren: Wann werde ich endlich den Nachnamen los? Ich bin bereit, jeden zu heiraten.“ Heute können Jüdinnen und Juden laut Schwarzman in der Ukraine „in Ruhe leben“: Das Land kenne zwar antisemitische Tendenzen, es werden Denkmäler zerstört oder Synagogen beschmiert, aber ein staatlicher Antisemitismus wie in der Sowjetunion existiere nicht mehr.
„Ein Interview kann man nicht in nur zwei Stunden führen“, hatte Schwarzman in Kyjiw gelernt, als er von Spielbergs Team auf die Zeitzeugeninterviews vorbereitet wurde. Man müsse die Leute so lange erzählen lassen, bis wirklich alles raus sei. Nach eineinhalb Stunden mit dem jungen Mann, der nur etwas älter aussieht, muss ich weiter zum nächsten Termin – wohlwissend, dass wir uns noch ganze Tage hätten unterhalten können. Vor der Bürotür warten schon einige Menschen aus der jüdischen Gemeinde. Auch sie haben Wichtiges mit Roman Schwarzman zu besprechen.