Ein Dorf, das nicht mehr existieren soll

Wolhynchen, immer ging es um Wolhynchen. Stundenlang saßen sie in der Küche bei schwachem Licht zusammen und erzählten sich Geschichten aus ihrer Heimat Wolhynien im Westen der Ukraine. Vielleicht lieben wir Dinge und Menschen umso stärker, wenn sie uns mit Gewalt entrissen werden. Meine Großeltern haben ihr Wolhynchen jedenfalls bis zum letzten Atemzug verehrt wie eine Mutter. Zu ihr zurückkehren durften sie trotz aller Liebe nie, selbst dann nicht, als Stiefmutter Kasachstan sie hungern und frieren ließ. 85 Jahre nachdem meine Großeltern aus der Ukraine deportiert worden waren, will ich das Dorf sehen, das ihnen als Leinwand für ihre Sehnsucht diente. Auch wenn mein Vater sagt: „Es ist nichts mehr übrig von Towine.“

Typisches Haus mit einem Weiher davor in Serhiivka (Сергіївка / Zhytomyr).

Ohne Erwartungen fahre ich an einen Ort im Westen der Ukraine, der nicht mehr existieren soll. Merkwürdig vertraut kommen mir die Häuser vor, je näher wir Towine kommen. Diese einstöckigen weißen Häuschen mit blauen oder grünen aus Holz geschnitzten Fensterrahmen. Die Veranden aus Holz, zur Hälfte verglast. So sahen auch die Häuser im Dorf meiner Großeltern in Kasachstan aus. 1936 wurden sie dorthin deportiert. Weil sie Deutsche waren und zu nah an der Westgrenze der Sowjetunion lebten, zu nah an Nazi-Deutschland, mit dem bald ein Krieg drohte.

Mein Großvater mit seiner ersten Ehefrau.

Heute fahre ich an den Ort, an dem mein Großvater Reinhold Peter gelebt hatte – mit seiner ersten Ehefrau Olga, einer Ukrainerin, und vier Kindern, die in Kasachstan nie zu Erwachsenen wurden. Dazu fehlte es ihnen an Essen, Wärme, an Lebenskraft. Olgas Mädchenname: Bondartzyk. Mein Papa sagt, es könnten noch immer Verwandte von ihr im Nachbardorf von Towine leben, in Serhiivka. Dort angekommen frage ich im ersten Haus nach. Hier wohnt Galina, Galina Bondartzyk und damit eine Verwandte der Ehefrau meines Opas.

Das Haus von entfernten Verwandten meines Großvaters Reinhold Peter in Serhiivka.

Ihr Nachbar kommt dazu und erzählt uns von Towine. Eine deutsche Kolonie sei das gewesen. Und dann überrascht er mich: Fünf Häuser stünden noch in Towine. Sie schicken uns nun zu Vera am Ende des Dorfes. Sie ist die Tochter eines Bruders von Olga Bondarzyk. Vera müsste meinen Großvater gekannt haben. Er war Ende der Sechziger hier, um die Familie seiner Ehefrau zu besuchen. Ohne sie, denn Olga war 1944 in Kasachstan an Typhus gestorben.

Vera und ihr Ehemann in ihrem Haus in Serhiivka.

Vera ist zunächst zurückhaltend. Seit über 50 Jahren waren keine Peters mehr nach Serhiivka gekommen. Generell seien seit der Zeit keine Deutschen mehr hier gewesen. Sie erinnere sich aber an meinen Großvater und nimmt uns bald mit ins Haus. Dort zeigt sie mir Bilder, auf denen ich Verwandte von mir erkenne. Sie hatte bis in die 1980er Jahre Briefkontakt nach Kasachstan. Vera muss selbst um die 80 Jahre alt sein, erzählt mir von ihrem Vater, der meinen Großvater in den 1970er in Kasachtan besucht hatte. Zusammen hatten sie Lieder auf Deutsch gesugen, das hat mir mein Vater immer wieder erzählt.

Vera zeigt mir Bilder, auf denen auch die Familie meiner Tante zu sehen ist. Sie standen in Breifkontakt.

Wenn Vera von meinem Großvater und unserer Familie spricht, sagt sie „Peterowy“, die Peters. Sie weiß auch noch, wo das Haus meines Großvaters in Towine gestanden hatte. Dort sei jedoch alles zugewachsen, zu sehen gäbe es nichts. Ich möchte trotzdem nach Towine. Nachbarin Swetlana will uns den Weg zeigen. Sie steigt in unser Auto und nach wenigen Minuten über eine Straße, die mehr Feld ist als befahrbar, kommen wir in der ehemals deutschen Kolonie an. Einige der verstreut zwischen Bäumen und Feldern stehenden Häuser sind sogar bewohnt. Swetlana zeigt mir das Grundstück, auf dem das Haus von Wassilij Bondartzyk stand, einem Schwager meines Großvaters, den er oft besucht hatte.

Verlassenes Haus in Towine (Westukraine).

Gegenüber erkenne ich ein verlassenes Haus der deutschen Kolonisten, die sich hier seit etwa 1860 angesiedelt hatten. Ich will es mir genauer ansehen, mir vorstellen, wie mein Großvater vielleicht auch hier jemanden besucht hatte. Es ist wieder so ein Haus, wie ich es aus Kasachstan kenne, wo die deportierten Wolhyniendeutschen in dem Stil ihre Häuser gebaut hatten, wie es hier in ihrer Heimat üblich war.

Lichtung in Towine (Wolhynien).

Diese Häuser, diese Felder, den Wald da hinten hast du gesehen, Opa, denke ich, während ich mich durch das hohe Gras dem Haus nähere. Hier kennt man noch deinen Namen, deine Familie, die Peterowy haben dort weiter hinten gelebt, hatte Swetlana gesagt. Ich nehme Erde mit, Erde, in die du lieber begraben worden wärst als in die der Steppe Kasachstans. Ich würde gern etwas länger bleiben. Dieser Ort hat etwas Friedvolles, Vertrautes. Aber auch ich muss fort.

Schuppen neben einem verlassenen Haus in Towine

Mein Vater hat gesagt, es ist nichts mehr übrig von Towine. Dabei finde ich hier eine ganze Welt, das Wolhynchen, das für meine Großeltern für immer Heimat blieb. Sie hatten es mit nach Kasachstan genommen. In jedem ihrer Gedanken, jeder Geste, jedem Wort schwang ihre Heimat mit. Aus einem Ort, nach dem sie sich sehnten, wurde fast unmerklich ein ganzes Leben, das ein Strang aus Hoffnung und Sehnsucht zusammenhielt. Ihr Wolhynchen hatten sie dabei behutsam in ihr Herz gelegt und bis zum letzten Atemzug mit beiden Händen umklammert.  

In einem kurzen Video habe ich meine Eindrücke von dieser sehr besonderen Reise zusammengefasst.

Dieses Video entstand im Juli 2021 in Serhiivka (Сергіївка / Zhytomyr) und der ehemaligen deutschen Kolonie Towine in der Westukraine: Ich, Deutsche aus Kasachstan, besuche zum ersten Mal Towine, den Heimatort meines Großvaters. Er und seine Familie sowie viele andere Bewohnerinnen und Bewohner Towines wurden 1936 nach Kasachstan (Ostrownoje / Zelinograd) deportiert. Die meisten von ihnen waren Deutsche, einige hatten auch ukrainische oder polnische Wurzeln.

9 Gedanken zu „Ein Dorf, das nicht mehr existieren soll“

  1. Liebe Ira
    Sehr schöner und beeindruckender Bericht.
    Auch der kleine Film dazu sehr liebevoll gedreht.
    Man kann sich die Gegend und die Häuser dort viel besser vorstellen.
    Schade, dass sie nur noch diesen Monat dort sind.
    Ich hoffe, es komnen noch ein paar solcher Berichte👌
    Ihnen alles Gute für die Zukunft!!
    Liebe Grüße
    Sabine

  2. Liebe Ira
    Ein sehr schöner und emotionaler Bericht, durch den Film kann man sich Landschaft, die schönen Häuser und Menschen noch besser vorstellen!
    Schade, dass ihre Zeit als Stadtschreiberin bald zu Ende geht.
    Es waren sehr interessante Berichte,
    vielleicht kommen noch ein paar?

    1. Liebe Sabine, vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Worte! Ich freue mich sehr, dass ich einige Menschen hier und vor allem über Instagram in meinen täglichen Stories erreichen konnte. Es kommen in den kommenden Wochen noch einige Veröffentlichung auf dem Blog und in den deutschen Medien -so hoffe ich. Viele herzliche Grüße aus Odes(s)a, Ira

  3. Liebe Ira Peter,

    auch dieser Bericht ist sehr gelungen, für mich wirkt er schon wie eine Art Schlussmelodie der vielen Blogs aus Odessa. Spassiba nochmals für all diese Eindrücke – und möge Bessarabien mit Odessa, Wohynien und der Ukraine einen guten Weg in die Moderne finden, der Geschichte mit Sorgfalt pflegt – und Neues schaffen kann.

    Alles Gute und viele Grüße,
    Niko Lamprecht

    1. Lieber Niko Lamprecht, herzlichen Dank fürs Lesen und Ihre warmen Worte! Diese Woche kommen noch einige mehr Blogtexte, eine Schlussmeldodie erklingt wohl nie aus meiner vermutlich nie endenden Liebe zu der Ukraine und Odes(s)a. Herzliche Grüße, Ira

  4. Dir Ukraine und Odessa lässt einen nie los. Das Schöne ist, dass wir alle mit unserer persönlichen Geschichte in Europa unterwegs sind. Wir als Nachkommen unserer Vorfahren, die in der Südukraine siedelten und lebten (nicht in Bessarabien) pflegen Kontakte und Freundschaften mit BewohnerInnen ehemaliger deutscher Dörfer. In
    einigen Schulen lernen Kinder die deutsche Sprache. Wir leben die Gegenwart mit den Spuren unserer persönlichen Geschichte vor Ort, und bauen an einer gemeinsamen Zukunft in Europa.

  5. Liebe Ira,
    ich habe im Februar den Artikel in der RNZ über Sie gelesen und bin so auf diese Seite gekommen. Sehr berührend. Mein Großvater ist in Alt-Emilien (Emilin Stare?) in Wolhynien geboren, seine verwitwete Mutter ist ca 1913/4/5? mit ihren 4 Söhnen nach Ostpreußen gewandert (im wahrsten Sinne des Wortes…). Nach dem 2. Weltkrieg sind sie dann in BadenWürttemberg gelandet. Gibt es Möglichkeiten an Infos über Emilin Stare zu kommen? (Zur zeit ganz scghlechter Moment…).

    Herzliche Grüße Lydia

  6. Hallo Ira,
    Vielen Dank für den tollen Bericht. Auch meine Großeltern kommen aus der Ukraine, hatten aber das „Glück“, nach Polen umgesiedelt worden zu sein.
    Leider wurde nie darüber gesprochen, erst lange nach dem Tod meiner Großeltern habe ich etwas darüber erfahren. Ich hab mich nur als Kind immer gewundert, wenn abends sowjetische Offiziere zu Besuch kamen und ihr „Russisch“ so anders klang, als dass was ich damals lernen musste.
    Später habe ich dann auch etwas recherchiert. Die Kolonie, aus der mein Großvater kam, existiert leider nicht mehr. Durch den Vergleich alter Karten mit Google Earth konnte ich den ungefähren Standort finden- ein riesiges Getreidefeld.
    Wenn dieser unselige Krieg endlich vorbei ist, werde ich mich auf den Weg dorthin machen. Nicht um dort noch etwas zu finden- da bin ich schon Realist- aber um, wie Sie es auch beschrieben haben, die Stimmung zu spüren.
    Viele Grüße aus dem Nordschwarzwald
    R. Rosin

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