„А нам все равно, а нам все равно – Пусть боимся мы волка и сову“* – jeder Mensch, der in der Sowjetunion gelebt hat, kennt dieses Lied. Der russische Schauspieler Jurij Nikulin sang es 1969 in der später zum Kult gewordenen sowjetische Filmkomödie „Der Brillanten-Arm“. Auch bei mir weckt es sofort Erinnerungen an Kindheit und Leichtigkeit, als ich den Park des Restaurants „Datscha“ in Odesa betrete.
Die Musikauswahl ist kein Zufall, denn genau so sollen sich Gäste hier fühlen: umhüllt von einer Decke aus Sorglosigkeit. Über die Einzigartigkeit des Ortes, das Besondere der odesitischen Küche und Antisemitismus in der Sowjetunion sprach ich mit Savveliy Libkin, einem der erfolgreichsten Gastronomen der Ukraine, leidenschaftlichen Odesiten und Besitzer der Datscha.
Sie haben in Ihrem Leben bereits über 30 Restaurants eröffnet, welches war das erste?
Savveliy Libkin: Ich weiß nicht, ob man es Restaurant nennen kann. Denn eigentlich war es nur ein „Drive-In“ und hieß auch so. Es war im Jahr 1993 und befand sich in der Nähe des Bahnhofs hier in Odesa. Es war eine sonderbare Zeit, denn durch die Perestroika war alles unklar. Nur eins war klar: Du kannst Geld verdienen und das taten wir auch. Denn die Leute kamen schon allein aus Neugierde, McDonalds gab es damals in der Ukraine noch nicht. Sie standen nicht selten über eine Stunde mit ihrem Auto in der Schlange. Dabei verkauften wir nur Pizza.
Sie wollten aber eigentlich nicht Gastronom werden, sondern hatten einen anderen Berufswunsch – welchen?
Savveliy Libkin: Nach der Schule, wo ich alles ziemlich langweilig fand und auch nur ein mittelmäßiger Schüler war, wollte ich an die Kunstschule. Beim zweiten Anlauf wurde ich auch genommen, aber bald schreckte mich irgendetwas davor ab, Künstler zu werden. Ich lernte dann an einer Schule für Kulinarik. Nach der Armee wollte ich mich unbedingt in diesem Bereich an einem Institut fortbilden. Aber Anfang der 1980er durfte man als Jude nicht einmal seine Bewerbung einreichen. Es herrschte ein stiller Antisemitismus, es wurde nicht über ihn gesprochen, auch nicht geschrieben, doch er war in Odesa ein Faktum. Sobald sie meine Nationalität (Anmerkung: in der Sowjetunion wurde Jude/Jüdin in den Pässen als Nationalität geführt) sahen, war ich raus, der Nächste bitte.
Wo haben Sie sonst Antisemitismus erfahren?
Savveliy Libkin: Zum ersten Mal zu spüren bekam ich ihn im Kindergarten, als andere Kinder mich als Juden beschimpften. Eine Sache bleibt mir auch unvergessen: Ich wollte nach meiner Ausbildung in einem guten Restaurant arbeiten und versuchte einen Job im Hotel Krasnoe zu bekommen, das heutige Bristol. Ich wurde zu einem Gespräch eingeladen. Sobald klar war, dass ich Jude war, bekam ich eine Absage. Es hieß, Juden dürften nicht in Betrieben arbeiten, die mit Tourismus zu tun hatten. Ich gab es auf und fand eine Anstellung in einem einfachen Restaurant.
2004 haben Sie das Restaurant „Datscha“ eröffnet, das heute zu den angesagtesten und teuersten Odesas zählt – was ist das Besondere?
Savveliy Libkin: Wir sind nicht nur ein Restaurant, wir sind eine Botschaft, die Botschaft der odesitischen Küche. Bei uns gibt es zu hundert Prozent authentische odesitische Gerichte. Auf Basis dieses Restaurants habe ich mehrere Bücher geschrieben, die dazu beigetragen haben, dass die odesitische Küche Einzug in Restaurants der gesamten Ukraine gefunden hat. Die zweite Besonderheit ist der Ort. Eine Datscha ist traditionell ein Sommerhaus im Grünen außerhalb der Stadt, in dem man sich erholt. Deshalb können sich Gäste nach dem Essen bei uns auf die Betten im Park legen und sich entspannen. Kinder können hier im Brunnen herumtollen, Karussell fahren oder mit den Kaninchen spielen. Diese entspannende Atmosphäre in Verbindung mit unserem Essen machen das Restaurant so besonders.
Wie wurde das Gebäude zuvor genutzt?
Savveliy Libkin: Das Gebäude wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Datscha erbaut. Während der Sowjetzeit war hier eine zahnärztliche Praxis als Teil eines Sanatoriums. Als wir das Haus und das große Grundstück hier am Franzuskij Boulevard vor 26 Jahren übernommen hatten, standen hier im Gebäude noch alte Zahnarztstühle aus der Sowjetzeit herum, sonst waren hier nur kahle Wände, kaputte Türen, kein Bodenbelag und auch kein Dach. Wir renovierten mehrere Jahre und machten daraus wieder eine Datscha.
Was sollte man unbedingt probieren, wenn man nach Odesa kommt?
Savveliy Libkin: Unser Menü beantwortet diese Frage. Ich empfehle als Vorspeise unbedingt den gefüllten Gänsehals, Forschmak aus Hering und Kaviar aus Auberginen. Als Hauptspeise sollten Gäste Fisch aus dem Schwarzen Meer, gebratene Grundeln oder die Flunder, probieren. Im Sommer sind unsere Tscherbureki mit Kalb- und Hammelfleisch und die kleinen Warenki mit Flunderfüllung sehr beliebt.
Warum sind die Wareniki bei Ihnen viel kleiner als in anderen Restaurants?
Savveliy Libkin: Wir machen sie haargenau nach dem Rezept meiner Oma und bei ihr waren sie immer so fein. Einige der Speisen, auch Gebäck, machen meine Mitarbeitenden genauso wie meine Oma das immer zubereitet hatte. All diese Familienrezepte habe ich auch in meinem ersten Buch über die odesitische Küche veröffentlicht.
Was ist typisch für die Küche Odesas?
Savveliy Libkin: Das Essen hier erzeugt sofort ein Lächeln. Ob bei Odesiten oder Besuchern unserer Stadt. Wenn ein Odesit zum Beispiel echte Tjulka-Sardinen mit Kartoffeln sieht, ist er sofort glücklich, denn das ist einfach eine geniale Sache. Grundsätzlich ist unsere Küche wie ein Oliviersalat, man weiß nicht mit letzter Sicherheit, woher welcher Geschmack kommt. Denn seit über 200 Jahren, seit der Gründung der Stadt, leben hier viele unterschiedliche Kulturen, die miteinander auch kulinarisch verschmolzen sind. Es ist deshalb auch immer schwierig zu sagen, welches Gericht in Odesa welcher Nation zuzuordnen ist. Die Nationalitäten haben sich in Odessa immer gemischt und ein wunderbares Ganzes ergeben.
* Übersetzung: „Uns ist alles egal, uns ist alles egal – Wir haben vielleicht Angst vor dem Wolf oder der Eule…“ Hier können Sie das Lied anhören.
Odessa bietet ein kulinarisches Feuerwerk. Im November begrüßen wir hier in Fulda 9 junge Kollegen zum Seminar auf die WM in Luxemburg.