Odesa war seit der Gründung 1794 eine internationale Stadt. Die ersten Statthalter kamen aus Neapel und Paris, später bestimmten auch Deutsche, Griechen und Juden die Kultur und Wirtschaft der Stadt am Schwarzen Meer. Bis heute zeichnen sich Einrichtungen der polnischen, französischen, italienischen, georgischen, jüdischen und griechischen Community ein in die kulturelle Landschaft der ukrainischen Metropole.
Einrichtungen wie „Wiedergeburt“ oder die „Deutsche Jugend“ repräsentieren die deutsche Minderheit der Stadt. Eine besondere Stellung nimmt das „Bayerische Haus“ in Odesa ein. Seit fast 30 Jahren schlägt es auf kultureller und wirtschaftlicher Ebene eine Brücke zwischen der Ukraine und Deutschland. Seine Gründung jedoch hat etwas mit Zentralasien und Sibirien zu tun – was genau und welche Funktionen das Haus heute erfüllt, darüber sprach ich mit der Direktorin der Einrichtung, Maria Degtjarenko.
Wie kam es 1993 zur Gründung des Bayerischen Hauses in Odesa?
Das „Bayerisches Haus, Odesa“ (BHO) wurde als Deutsches Kultur- und Begegnungszentrum vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit, Sozialordnung, Familie und Frauen gegründet. Es gab nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein Abkommen zwischen den postsowjetischen Staaten und Deutschland. Eines der Ziele war es, dass Teile der deutschen Minderheit aus beispielsweise Sibirien oder Kasachstan nicht direkt nach Deutschland auswandern. Die GIZ-Ukraine wurde daraufhin im Rahmen von Fördermaßnahmen des Bundesinnenministeriums damit beauftragt, Deutsche aus Sibirien oder beispielsweise Zentralasien dabei zu unterstützen in die Region Odesa umzusiedeln. Damals wurden für die Umsiedler in drei Dörfern in der Nähe von Odesa Häuser gebaut und auch zum Beispiel neue Gasleitungen verlegt. Unsere Aufgabe war es, diesen Neuankömmlingen dabei zu helfen, Deutsch zu lernen oder aufzufrischen und ihnen die Kultur der modernen Bundesrepublik näher zu bringen. Unser erster Deutschkurs hier war also für die deutsche Minderheit der gerade zerfallenen Sowjetunion. Die Männer und Frauen, die wir hier geschult hatten, gingen danach für sechs Monate nach Bayern und machten dort berufliche Weiterbildungen zum Metzger oder Schreiner. Das Bayerische Sozialministerium hat ihnen auch technische Ausstattungen geschenkt, damit diese Menschen in der Region Odesa eigene Betriebe eröffnen und so für sich und weitere Arbeitsplätze schaffen.
Wie entwickelte sich die Situation für diese neuen Umsiedler aus Kasachstan und anderen postsowjetischen Staaten?
Viele von ihnen mussten zunächst in Wohncontainern leben. Manche von ihnen sogar für Jahre, bis die insgesamt über 100 neuen Häuser zur Verfügung standen. Das zweite Problem war die Arbeitslosigkeit. Die Gründung eigener Betriebe funktionierte nur für manche, auch wenn die GIZ zusätzliche Schulungen in Betriebswirtschaft durchführte. Noch bis vor wenigen Jahren gab es hier eine Schreinerei aus dieser Zeit, auch einen Öl-produzierenden Betrieb. Leider haben jedoch die meisten der Umsiedler die Region Odesa nur als Zwischenstation gesehen und sind dann nach Deutschland ausgewandert. Ich kann das auch verstehen, viele kamen zum Beispiel aus der Stadt und sollten plötzlich auf dem Land zurechtkommen.

Warum war Bayern an der Gründung Ihrer Einrichtung beteiligt?
Bayern und die Ukraine standen schon vor der Perestrojka im Austausch, aus einer Partnerschaft auf universitärer Ebene von 1988 entstand zum Beispiel 1990 die Städtepartnerschaften zwischen Odesa und Regensburg. Auch sind München und Kyiv oder beispielsweise Nürnberg und Charkiw Partnerstädte. Es gibt sogar eine ukrainisch-bayerische Kommission, die regelmäßig tagt und gemeinsame bilaterale Projekte im Bereich der Wirtschaft, Wissenschaft oder Landwirtschaft umsetzt. Seit 2018 gibt es auch ein Büro des Freistaats Bayern in Kyiv, das politische und kulturelle Kooperationen zwischen den beiden Ländern initiiert und unterstützt.
Welche Leistungen bietet das Bayerische Haus heute?
Mit unserem Angebot möchten wir 30 Festangestellte und 50 Honorarkräfte Mittler zwischen der Ukraine und Deutschland sowie der EU sein. Dazu gehört unser Sprachlernzentrum mit Unterricht für Deutsch, Englisch, Russisch und Ukrainisch. Wir sind seit mehr als 20 Jahren akkreditierter Partner des Goethe-Instituts Ukraine, nehmen hier auch Prüfungen ab und stellen in unserer Bibliothek Besuchern über 4.000 deutschsprachige Medien zur Verfügung. Auch Schulklassen besuchen unseren Lesesaal, so kommen sie mit deutscher Sprache in Berührung. Das passiert auch in unseren Sprach-Sommercamps für Kinder. Unser Haus ist wie eine deutsche Insel in Odesa. Um den kulturellen Dialog zu fördern, initiieren wir selbst Ausstellungen, Lesungen oder Workshops und beteiligen uns an kulturellen Veranstaltungen der Stadt Odesa. Beispielsweise laden wir deutsche Künstler wie kürzlich Matthias Görne, einen deutschen Opern- und Kammersänger, für die „Odesa Classics“ ein. Mit anderen Projekten fördern wir auch den wirtschaftlichen Austausch zwischen Deutschland und der Ukraine. Beispielsweise sind wir erster Ansprechpartner für Unternehmen aus Deutschland. Über uns bekommen sie Kontakte zur regionalen Wirtschaft und Politik und können in der ersten Phase auch Büroräume im Bayerischen Haus nutzen.
Sie kooperieren auch mit der NATO – in welcher Form?
Wir kooperieren mit der Zivilabteilung der Nato. Im Rahmen eines gemeinsamen Projekts bringen wir ukrainischen Offizieren, die oft im mittleren Alter aus dem Dienst ausscheiden, Deutsch und Englisch bei. Auch bieten wir ihnen Managementtrainings an. Damit sollen ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt steigen. Ich war am Anfang skeptisch und fragte mich, was ein ukrainischer Offizier mit der deutschen Sprache anfangen soll. Aber rund 75 Prozent unserer Absolventen sind später sehr erfolgreiche Manager und finden Arbeitsstellen zum Beispiel bei deutsch-ukrainischen Unternehmen. Auch sind wir aktiv im Bereich der Demokratiebildung für ukrainische Studenten und Professoren.

Eine große Herausforderung für Odesa und die Region sind noch immer HIV und AIDS. Auch in diesem Feld sind Sie aktiv – wie unterstützt das Bayerische Haus Betroffene?
Wir unterstützen seit 2005 mit verschiedenen Projekten den Kampf gegen HIV und AIDS in der Südukraine und haben ein „Netzwerk der Hilfe für HIV/AIDS-Infizierte“ aufgebaut, das als Pilotprojekt in der Ukraine gilt. Seitdem haben wir beispielsweise in der Region Odesa über 4.000 Lehrer ausgebildet, damit sie Schüler für das Thema sensibilisieren. 1.300 Ärzte, 25 Professoren der medizinischen Fakultät Odesa, 1.300 Krankenschwestern und 1.580 Sozialarbeitende haben wir ebenfalls zum Thema HIV und AIDS geschult. Über unsere Koordinierungsstelle bei der HIV/AIDS-Bezirksklinik vernetzen wir Polikliniken mit NGOs, die HIV/AIDS-Patienten helfen und staatlichen Sozialzentren der Region. In unserer Hotline beraten wir beispielsweise betroffene Eltern oder junge Menschen, die nicht mit ihren Eltern darüber sprechen möchten, wenn sie ungeschützten Geschlechtsverkehr hatten. Unser geschultes Personal kann auch direkt einen Arzt aktivieren, der mit einem speziellen Wagen zum Patienten fährt. Oft rufen auch infizierte schwangere Frauen, Straßenkinder oder Menschen an, die auf Grund einer HIV-Erkrankung rechtliche Unterstützung brauchen. Im Laufe der Jahre haben wir das Projekt in Odesa auf unsere Nachbarregionen übertragen und die Regionen miteinander vernetzt.
Warum sind HIV und AIDS gerade in der Südukraine ein Problem?
Das hat wohl mehrere Gründe. Odesa hat viele ausländische Besucher und Studierende und ist zudem eine Hafenstadt. Seeleute, die hier Halt machen oder ihre Familien besuchen, haben manchmal ungeschützten Sex in anderen Häfen und können so Geschlechtskrankheiten in die Region tragen. Aber HIV und AIDS kennt keine beruflichen oder sozialen Grenzen. Die Erkrankung ist auch unter der „goldenen Jugend“ verbreitet. Das sind Kinder aus wohlhabenden Familien, die sich in Nachtclubs austoben, oft wechselnde Partner haben und nicht richtig verhüten. Und hier ist das Problem noch ein Erbe der Sowjetzeit, in der sexuelle Erziehung tabuisiert war. Bis heute hängt es vom Lehrer ab, ob und wie er das Thema Sexualität und Geschlechtskrankheiten im Gesundheitsunterricht behandelt.
Wie finanzieren Sie diese Projekte?
Verschiedene kleine Sponsoren haben uns bei den Projekten rund um HIV-Prävention und AIDS-Hilfe geholfen und unterstützen uns teilweise bis heute wie „Brot für die Welt“, der Lutherische Weltbund, der Evangelischen Landeskirche Bayern, der amerikanischen Fond „Geneva Global“ und „Johanniter International“. Demokratiebildende Seminare wurden von der Bayerischen Staatskanzlei, der Friedrich Naumann Stiftung und der Hans Seidl Stiftung unterstützt. Zu Beginn hat uns noch das Bayerische Ministerium für Arbeit und Sozialordnung komplett finanziert, dann haben wir unser Leistungsprofil so umgestaltet, dass wir uns seit 2005 selbst tragen können. Wir erwirtschaften unsere Einnahmen aus Sprachkursen sowie aus unseren kommerziellen Dienstleistungen wie Übersetzungsdienst oder beispielsweise Marktanalysen oder rechtliche Beratungen deutscher Unternehmer. Auch unterstützen wir gegen eine Gebühr Menschen, die in Deutschland studieren möchten und geben verschiedene Wirtschaftstrainings. Weil wir eine gemeinnützige Einrichtung sind, fließen unsere Überschüsse wieder zurück in unseren Wohltätigkeitsfonds. Sie werden aber auch dazu genutzt, um kostenfreie Deutschkurse und Workshops anbieten zu können, um Menschen für die deutsche Kultur und Sprache zu begeistern. Für Großprojekte machen wir aktiv Fundrising und beantragen Mittel zum Beispiel beim Goethe-Institut Ukraine, Stiftungen wie der Robert-Bosch-Stiftung oder unserem langjährigeren Sponsor für unseren Businessplanwettberwerb, dem deutschen Logistikunternehmen HLLA/CTO in Odesa.

Welche Auswirkungen hatte die Corona-Pandemie für das Bayerische Haus?
Als Covid ausgebrochen ist und alle Projekte gestoppt wurden, hatte ich schon zahlreiche schlaflose Nächte, wie ich alles finanzieren werde. Noch vor dem ersten Lockdown, der bei uns am 16. März 2020 begann, haben wir unsere Mitarbeiter geschult und sie fit gemacht für Online-Unterricht und das Arbeiten von zu Hause aus. Damit hatten wir keinen einzigen Tag Betriebspause. Für Kunden und Mitarbeiter waren die Büroräume nämlich ab dem Zeitpunkt geschlossen. Manche Lehrkräfte unterrichteten jedoch online von hier aus, wenn sie zu Hause keine passende Infrastruktur hatten. Im Juni durften wir wieder öffnen, aber einige Kunden und auch Lehrkräfte hatten Angst vor einer Ansteckung und setzten die Arbeit online fort. Das hat gut funktioniert. Für den zweiten Lockdown im Januar und den dritten im März und April 2021, wo wir wieder schließen mussten, waren wir dank unserer Erfahrungen im Vorjahr gut vorbereitet. Wir haben durchgehalten, auch wenn gerade Sprachenlernende aus dem Ausland nicht kommen konnten. Es kommen derzeit auch kaum Menschen, die Deutsch normalerweise lernen, um in Deutschland zu studieren oder zu arbeiten. Natürlich haben wir noch nicht die Zahlen von vor Covid erreicht. Aber wir halten auch künftig durch, sind ein gutes Team und mir persönlich macht die Arbeit wahnsinnig viel Spaß, da es immer etwas Neues gibt.
So viel Neues habe ich aus diesem Beitrag erfahren! Vielen Dank an Frau M. Degtjarenko! Mein Dank gilt auch der Stadtschreiberin Ira Peter für die interessanten Geschichten aus der wunderschönen Stadt!
Vielen Dank fürs Lesen und Ihre Worte! Ich finde es sehr interessant, was das Bayerische Haus alles leistet. Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Ich bin fast jede Woche dort und freue mich sehr über den warmherzigen Austausch mit den Mitarbeiterinnen vor Ort.
Was für eine wunderbare Organisation. Ich wünsche allen weiterhin viel Erfolg!
Das finde ich auch, das Bayerische Haus leistet sehr wichtige Arbeit vor Ort!
Alles Gute bei der weiteren Reise durch Odessa! Ein Ausflug auf das „bessarabische Land“ dürfte sich auch lohnen, auch wenn in Tarutino und anderen alten Siedlungsstellen keine Deutschen mehr wohnen. Die alten Häuser, Kirchenruinen und verbliebenen Friedhofssteine sprechen ihre eigene Sprache – zu dem, der verweilt und auch dem Wind zuhört.
Es war mir tatsächlich ein Fest durch Bessarabien zu reisen und bald werde ich wieder hin, es gibt dort unendlich viel Interessantes zu entdecken!
Nach 20-jähriger Begleitung des Aufbaus als Berater und Vorstand des Bayerischen Hauses Odessa (BHO) und jetzt als Erster Vorsitzender des „Förderkreises BHO e.V.“ freue ich mich über die Kreativität und Dynamik sowie Professionalität mit der das BHO-Team unsere Vision „Völker übergreifend und Völker vereinend zu wirken“ auch in schweren Pandemiezeiten mit Ziel führenden Projekten realisiert. Herzlichen Glückwunsch und vielen Dank!
Herzlichen Dank auch an Sie Frau Peter für Ihre tolle und lebendige Berichterstattung über die „Perle am Schwarzen Meer“!
Vielen Dank fürs Lesen! Das Bayerische Haus leistet ganz wichtige Arbeit hier in Odes(s)a. Ich bin dort regelmäßig und finde immer Unterstützung – sei es zu Interviewpartnern, Sprachunterricht oder Tipps für kulturelle Events 😉
Hallo und guten Tag,
Wo seid Ihr heute zu Hause, an welcher Adresse? Früher war s mal die ul. Brigadnaya und heute?
Danke und liebe Grüße, Peter
Die aktuelle Adresse des Bayerischen Hauses ist diese: Uspenska Street, 60, Odesa, Odessa Oblast, 65000. Herzliche Grüße, Ira
Danke, habe den Ort jetzt gefunden!
Vielen Dank für das interessante Interview heute morgen im DLF! Dadurch habe ich jetzt auch dieses Blog gefunden.
Prima Initiative! Weitermachen!
Herzlichen Dank fürs Zuhören und Lesen! Viele sonnige Grüße aus Odes(s)a! Wer den Deutschlandfunkbeitrag nachhören möchte, findet ihn hier: https://srv.deutschlandradio.de/dlf-audiothek-audio-teilen.3265.de.html?mdm:audio_id=941707
Vielen Dank, liebe Ira, für den tollen Beitrag! Wir freuen uns immer auf neue Gäste und spannende Projekte!
Vielen Dank für die herzliche Aufnahme im Bayerischen Haus <3