Menschen wie Elena Bieber trifft man heute nur selten in der Ukraine. Sie hat ihr Leben nämlich in genau dem Dorf verbracht, das ihre deutschen Vorfahren vor über 200 Jahren am Schwarzen Meer mitgegründet hatten. Vor 1954 aber riss der Zweite Weltkrieg Elena Bieber und ihre Familie aus der Südukraine bis nach Berlin und anschließend weit in den Osten der Sowjetunion. Oft trennten nur Millimeter sie von einer tödlichen Bombe, vor dem Verhungern oder Erfrieren. Ihre außergewöhnliche und gleichzeitig für Deutsche aus der Ukraine typische Lebensgeschichte erzählte sie mir in ihrem Haus in Neuburg, 30 Kilometer südlich von Odesa.
Ich wurde 1938 in einem Dorf bei Odessa geboren. Mein Vater war Deutscher und kam aus der Kolonie Neuburg. Meine Mutter war Ukrainerin. Als alle Deutschen im März 1944 Neuburg und die umliegenden Dörfer verlassen sollten, riet man meiner Mutter, sich von Papa zu trennen und den deutschen Nachnamen abzulegen. Aber dann hätte man Vater und seine Eltern ohne sie deportiert und sie wäre allein mit uns Kindern geblieben.
1805 hatten Familien aus Württemberg Neuburg (Ukrainisch: Новоградківка) 30 Kilometer südlich von Odessa gegründet. 1944 zählte das Dorf, das zu den Großliebentaler Kolonien gehörte, 1.100 Einwohner:innen. Am 20. März 1944 bekamen sie den Befehl der deutschen Besatzer, neun Tage später das Dorf Richtung Westen zu verlassen, um den herannahenden sowjetischen Truppen zu entkommen.
Umsiedlung ins Deutsche Reich
Wir wurden bis nach Polen getrieben. Wir hatten ein Pferd und einen kleinen Wagen. In ihm saßen Alte und kleine Kinder. Alle anderen liefen zu Fuß. Wir führten eine Kuh mit uns, sie ernährte uns. Die Kuh durften wir aber nur bis Rumänien mitnehmen. Ihre Hufen waren ohnehin bis aufs Fleisch abgescheuert. An der Grenze tauschten meine Eltern die Kuh gegen Lebensmittel ein.
Über Rumänien gelangten die Schwarzmehrdeutschen drei Monate später ins besetzte Polen rund um die Stadt Posen. Im September 1944 wurden alle erwachsenen Neuburger in die Deutsche Wehrmacht einberufen.
Ich war sechs Jahre damals, an einige Episoden dieser Fahrt erinnere ich mich. Wir liefen zum Beispiel entlang der Donau. Die Straßen waren furchtbar, der Weg oft zu schmal für die Pferdekarren, manche kippten ins Wasser. Hinter uns liefen Deutsche mit Gewähren. Nachts fütterten wir die Pferde und ruhten uns aus. Morgens weckten uns die Deutschen. Wir mussten uns in einer Reihe aufstellen und wurden durchgezählt. Einmal wagten zwei Familien nachts zu fliehen. Sie wurden am nächsten Tag gefunden und erschossen. Als wir in Polen ankamen, war Papa nicht mehr bei uns. Ich weiß nicht, wo er war. Er hat irgendwo ein Gefängnis bewacht oder so. In Polen hat man uns in eine Banja geführt, wo wir uns waschen konnten. Ich weiß bis heute nicht, warum – aber nach dem Baden malten sie uns irgendwelche Buchstaben oder Zahlen in grüner Farbe auf den Körper.
Ab 1939 existierte zunächst in Posen, später in Litzmannstadt (Lodz) die „Einwandererzentralstelle“ (EWZ). Sie war für die Einbürgerung und Ansiedlung von „volksdeutschen Umsiedlern“ zuständig. Dort wurden Menschen wie Elena Biebers Familie „erbbiologische“ erfasst und nach „rassischen und rassenhygienischen“ Prinzipien im Rahmen des Einbürgerungsverfahrens eingeordnet.
Aus Posen kamen wir dann nach Stettin. Auch in Berlin waren wir zeitweise und in Dresden, wir wurden hin- und hergetrieben – und um uns die ganze Zeit Krieg. Wir, das waren Papas Eltern, mein ein Jahr älterer Bruder Anatoli, den man bei der Einbürgerung zu Adolf umbenannt hatte, und meine Schwester, die 1944 zur Welt gekommen war. Während einer Zugfahrt, bei der wir unter Bomben gerieten, hatten wir Papas Schwester verloren. Jahrzehntelang dachten wir, sie sei im Zug gestorben. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fand ein Bekannter aus Deutschland zufällig heraus, dass sie und ihre Tochter Frieda überlebt hatten. Leider war meine Tante zu diesem Zeitpunkt bereits tot, aber zu der Tochter hatten wir bis zu deren Tod Kontakt.
Bombenregen über Stettin
In Deutschland hatte Mama für uns Kleidung, Essen und sogar Spielzeug bekommen. Zwischendurch lebten wir bei einer Familie mit einer Ziege. Die hatte meine Mutter immer gemolken, bis die Ziege eines Tages von einer Bombe zerrissen wurde. Dabei wurde auch meine Mutter verletzt. Später arbeitete sie in Stettin in einem Werk. Eines Nachts heulten mal wieder die Sirenen, Bomben fielen auf die Stadt. Wir liefen in einen Bunker. Vor uns rannte ein Mann mit einem grünen Hut. Und plötzlich sehe ich, wie der Mann weiterläuft, aber sein Kopf rollt auf die Erde. Zusammen mit dem Hut. Ich habe das Bild genau vor meinen Augen, über 75 Jahre ist das her.
Einmal wurde ein Keller, in dem wir uns vor den Bomben versteckten, erwischt. Die Hälfte des Raumes war über den Menschen zusammengebrochen, wir aber hatten Glück. Nur meine Schwester Lisa bekam einen Splitter ins Auge und ich einen in den Bauch, die Narbe habe ich immer noch. Gut, dass der Darm nicht getroffen wurde. Mama war danach mit Lisa im Krankenhaus.
„Repatriierung“ in die Sowjetunion
Kurz darauf war der Krieg vorbei und Opa kam mit der Nachricht, dass man uns zurück in die Ukraine fahren wolle. Meine Mutter meinte: „Wir werden nach Sibirien gebracht, nicht in die Heimat.“ Mein Großvater tat das als Blödsinn ab. So schlich sich Mutter mit Lisa nachts aus dem Krankenhaus. Man setzte uns in Viehwaggons. Die waren voller Löcher und völlig verdreckt mit Kuhmist. Mit ihnen fuhr man uns drei Monate bis nach Kostroma an der Wolga, über 2.000 Kilometer östlich von Stettin und fast ebenso weit entfernt von unserer Heimat am Schwarzen Meer.
Hungern in russischer Kälte
Wir wurden am Ufer der Wolga ausgesetzt, es war bereits Winter. Zum Glück hatten wir zwei Daunendecken und Mutter hatte irgendwelche getrockneten Kräuter und getrocknete Kartoffeln für uns mitgenommen. Opa besaß eine Gaslampe, mit der wir Eisbrocken schmelzen und uns mit den Kräutern Tee und diese Kartoffeln kochen konnten. Viele, die nichts hatten, starben. Wir hielten irgendwie durch, bis man den Fluss queren konnte, um zu den Baracken auf der anderen Seite zu gelangen. Dort lebten bereits andere deportierte Deutsche.
Mama musste dann im Wald arbeiten. Sie sägte Zweige von Bäumen ab, wir Kinder zogen die Rinde herunter. Währenddessen war mein Vater in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und baute aus deutschen Panzern Traktoren. Er schrieb meiner Oma in der Ukraine, der Mutter meiner Mama, und so erfuhren wir voneinander. Zwei Jahre später konnten wir zu ihm ziehen, rund 600 Kilometer weiter östlich nach Joschkar-Ola. Papa verbot meiner Mama, uns etwas über die Zeit im Deutschen Reich oder in der Ukraine zu erzählen. Man durfte früher nichts wissen, wir Deutschen wurden ja alle bespitzelt und in der Schule beschimpft.
In Joschkar-Ola lebten wir beim Dorfversitzender. 1947 herrschte großer Hunger in der Sowjetunion. Papa bekam 200 Gramm Brot für uns alle. Mama machte immer noch Tee aus Kräutern, damit unsere Mägen gefüllt wurden. Ich sammelte im Frühjahr Kartoffeln, die bei der Ernte im Herbst vergessen worden waren und noch eingefroren in der Erde lagen. 1949 kam mein Bruder Schurik zur Welt, kurz darauf wurde mein Vater erneut verhaftet.
Verurteilung des Vaters – Überleben im Pferdestall
Eines Nachts kamen zwei bewaffnete Beamte zu uns. Sie durchsuchten unsere Sachen, schnitten Gesichter aus Fotografien aus, schauten sich Postkarten an, die wir mal bekommen hatten. Sie verhafteten Papa, brachten ihn nach Odessa vors Militärgericht und verurteilten ihn zu 25 Jahren Haft für Vaterlandsverrat. Er kam nach Karaganda und sollte beim Bau einer Fleischfabrik helfen. Der Dorfvorsteher, bei dem wir bisher gelebt hatten, fürchtete nun um seine eigene Sicherheit und erlaubte uns nur noch einige Wochen im Pferdestall zu bleiben, bis der Sommer käme und wir uns eine andere Unterkunft suchen sollten.
Schurik und Lisa waren im Kindergarten, Mama ging arbeiten, wir in die Schule. Ich trug bis mittags Mamas Jacke und Filzstiefel und lief damit zur Schule, anschließend bekam mein Bruder Tolik die Sachen, um einige Schulstunden am Nachmittag zu besuchen. Im Sommer bekamen wir vier Kinder und Mama ein Zimmerchen, etwa ein mal zwei Meter groß. Als es im Winter wieder unerträglich kalt wurde und wir nichts zum Heizen hatten, gingen mein Bruder und ich einmal Holz klauen. Wir wurden erwischt und verhaftet. Man nahm uns alles ab, verhörte uns. Doch einen Tag später brachte man uns zwei Schlitten voller Holz.
Nach Stalins Tod: Rückkehr in die Ukraine
Mama ging alle zehn Tage zum Unterzeichen, wir standen unter Kommandantur und hatten kein Recht, uns frei zu bewegen. Erst 1954 bekamen wir die Erlaubnis, in die Heimat zurückzukehren. Wie kamen dann im Sommer zur Mutter meiner Mutter hierher in die Südukraine. 1955 durfte auch Papa zu uns kommen und wir zogen nach Neuburg. Wir konnten aber nicht in das Elternhaus meines Vaters. Bis heute hat man es uns nicht zurückgegeben. Vielleicht hätten wir jemanden bestechen sollen. In den 1990ern wollten wir nach Deutschland auswandern. Ich hatte fast alle Dokumente zusammen. Mein Mann ist aber in der Zeit verunglückt, kurz darauf auch mein Enkel. So bin ich geblieben und werde für immer bleiben, hier in Neuburg.
Nach 1944 wurden Ukrainer:innen aus der Westukraine und den Karpaten, auch Polinnen und Polen, in die deutschen Siedlungen im Gebiet Großliebental umgesiedelt. Nur selten kehrten Deutsche wie Elena Bieber in diese Kolonien zurück, auch lange nach Stalins Tod war es ihnen verboten. Während vor dem Zweiten Weltkrieg rund 400.000 Deutsche auf dem Gebiet der heutigen Ukraine lebten, sind es heute nur etwa 30.000. Ein Großteil der einstigen Ukrainedeutschen wanderte Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre als (Spät-)Aussieder:innen in die Bundesrepublik Deutschland aus den Verbannungsorten in Sibirien und Zentralasien aus. Mehr über die Geschichte der Deutschen in der Ukraine erfahren Sie in der aktuellen Folge des Aussiedler-Podcasts „Steppenkinder“ mit Historiker Dr. Alfred Eisfeld und Wladimir Leysle vom Rat der Deutschen der Ukraine.
a sad but most interesting account of those dreadful times.
Thank you for reading!
Назад отправлять из Германии стали когда настало Рейха и английская разветка по просьбе Сталина охотилась на русских немцев и выселяла их в СССР многих нквд прям на вокзале расстреливали особенно мужчин
Liebe Ira!
Ich bin zutiefst gerührt von diesem Schicksal, das Sie uns mitgeteilt haben.
Wie relativ doch vieles im Leben ist: ich bin 1943 in Böhmen im Adlergebirge geboren und 1946 wurden wir rausgeworfen, in Güterwagen bis in die Nähe von Magdeburg.
Das war natürlich für meine Eltern und Großeltern (die übrigens auf der Insel Rügen gelandet sind!) ein sehr schweres Schicksal, aber nach alle dem, von dem Sie uns wissen lassen, muss man tief betroffen schweigen.
Ich werde Elena Bieber, die so freundlich und lebensbejahend dreinschaut, nach Neuburg (Novogradivka) einen Brief schreiben, in tiefem Mitgefühl und Hochachtung.
Herzlichst
Erwin Klar
Lieber Erwin Klar, vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre berührenden Worte. Frau Bieber würde sich bestimmt freuen über eine Nachricht. Alles Beste für Sie und liebe Grüße aus Odesa, Ira
Danke!
Mein Brief an Frau Bieber kam leider gleich zurück
die Adresse (Novogradivka bei Odessa, p.i. 65000 Frau Bieber – alles natürlich in kyrillisch – kam leider zurück, der Deutschen Post schien diese Adresse wohl zu dürftig.
Können sie mir vielleicht die PLZ auf diesem Wege mitteilen?
Herzlichst
Erwin Klar
Ich schicke Ihnen die Tage die richtie Adresse zu 🙂
Sehr geehrte Frau Peter, danke für die Berichte aus Odessa & Umgebung , die ich heute nach dem Lesen Ihres Artikels in der ZEIT fand.
Es ist wohl vielen Menschen anzuraten sich mehr mit den Lebensgeschichten der Nachbarn zu beschäftigen und ggf. dadurch die eigene Anspruchshaltung zu hinterfragen.
Ja, gegen das Vergessen…
Alles Gute für Sie
Vielen Dank für das Lesen und Ihre Rückmeldung. Auch für Sie alles Gute!
Lese gerade „Das letzte grüne Tal“ von Mark Sullivan und war mir nicht sicher, ob die Geschichte wohl nur Roman ist. Danke, dass Sie die Handlung hier bestätigen.
(Nur die unnötigen Doppelpunkte hätten Sie sich sparen können.)